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Das Musikantendorf

Von

Es blinkt ein Dörflein in Böhmens Land,
Drin, was da lebendig, ein Musikant;
Verkehrte Schwalben, im Lenz entflogen,
Sind jetzt im Herbst sie heimgezogen.

Du meinst die Nachtigallen der Welt
In Einem Busch hier alle gesellt.
Du meinst, es müssen hier tausend Quellen
Zu Einem melodischen Strome schwellen.

Horch, lieblich spielt hier im Erdgeschoß
Ein Stück zur Geige der Virtuos;
Aufs Jahr durchklingt’s der Länder Weite,
Glückseliger, dich entzückt’s schon heute!

Doch furchtbar jetzt aus dem Nebenhaus
Braust polterndes Paukengewirbel heraus;
Dein Ohr, es glich dem Knappen im Schachte,
Auf den ein Bergsturz zusammenkrachte!

Horch, drüben flötet’s so süß und rein,
Und wiegt in gaukelnde Träume dich ein,
Doch hier der Trompeten Schmettern und Krachen
Sorgt für dein zeitliches Wiedererwachen.

Horch, Mädchenstimmen so lieblich und hehr,
Dein Ohr durchschifft des Wohllauts Meer!
Am Brummbaß hat der Nachbar Behagen,
Vom Sturm, ach, wird dein Schifflein verschlagen!

Horch, Waldhornklang! Wie herrlich er schallt!
Dir säuselt der duftige grüne Wald;
Doch dort des Dudelsacks Surren und Summen
Dich mahnt’s, daß in Wäldern auch Bären brummen!

Hier flüstert der Guitarren Erguß
Von Rosenlauben und heimlichem Kuß;
Dort braust aus dem Haus der Klang der Fagotte,
Wie von Betrunkenen eine Rotte.

Der übt auf dem Klarinett sich ein,
Der will ein Meister am Hackbrett sein;
Dort stürzt vom Fenster Posaunenschall nieder,
Wie eines Verzweiflers zerschmetterte Glieder.

Jed’ einzelner Ton klingt gut und rein,
Doch will kein Einklang Aller gedeihn,
Wie die zerhauenen Glieder der Schlangen
Sich winden und nie zusammen gelangen.

So heult’s durcheinander und wimmert und dröhnt
Und ächzt und schnurrt und pfeift und stöhnt,
Als säßen im Chor des Mißlauts Geister,
Als wäre Satan Kapellenmeister!

Du fliehst und suchst vor dem Thore Ruh
Und fühlst, es dachten die Vogel wie du,
Die Schwalben und Störche, die auch entflogen,
Weil heim die Musikanten gezogen. –

Doch wenn der Schnee zu schmelzen begann,
Dann wallt aus dem Dörflein Weib und Mann,
Die wollen ostwärts, die westwärts wandern,
Nach Süden die Einen, gen Norden die Andern.

Vereint, was getrennt zu Hause war:
Dort drei, hier ein Pärlein, dort eine Schaar,
Wie des Wohllauts Geist sie zu Kränzen reihte
Und, Blumen gleich, durch die Lande streute!

Das kommt dem Dörflein auch eben recht,
Drin musizirt der Lerchen Geschlecht,
Frau Schwalbe kommt herbeigeflogen,
Herr Storch ist auch wieder eingezogen.

Die Spielleut’ grüßen manch fernes Land,
Sind üb’rall willkommen und wohlbekannt,
Finden üb’rall offene Ohren und Hände
Und schäumende Becher und Beifallsspende.

Da hat jeder Busch seine Nachtigall
Und jeder Fels seinen Wasserfall,
In allen Wäldern die Vögel singen,
Durch alle Thäler die Quellen springen.

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Gedicht: Das Musikantendorf von Anastasius Grün

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Das Musikantendorf“ von Anastasius Grün entfaltet eine vielschichtige Betrachtung über die Natur der Musik, die menschliche Wahrnehmung von Harmonie und Disharmonie sowie die flüchtige Schönheit des Schaffens. Es beschreibt ein Dorf in Böhmen, in dem fast alle Bewohner Musikanten sind, und stellt eine kontrastreiche Szenerie dar, in der verschiedene musikalische Elemente – von Geige und Flöte bis zu Pauken und Dudelsack – unvereinbar nebeneinander existieren. Die anfängliche Faszination für die Vielfalt der Klänge weicht schnell der Erkenntnis, dass der „Einklang“ der einzelnen Töne nicht gelingen will, was eine Metapher für die Unfähigkeit des menschlichen Geistes darstellt, die scheinbar unendliche Bandbreite an Klängen zu einem kohärenten Ganzen zu vereinen.

Der Dichter verwendet eine lebendige Sprache, um die verschiedenen musikalischen Eindrücke zu vermitteln, wobei er sowohl die lieblichen als auch die disharmonischen Aspekte hervorhebt. Er spielt mit dem Gegensatz von „lieblich“ und „furchtbar“, „süß und rein“ und „Schmettern und Krachen“, um die ambivalente Natur der Musik zu verdeutlichen. Das Gedicht präsentiert eine Fülle von Sinneseindrücken: das „Blinken“ des Dorfes, die „lieblich spielende“ Geige, das „polternde Paukengewirbel“, die „Mädchenstimmen so lieblich und hehr“ sowie das „Dudelsacks Surren und Summen“. Diese Vielzahl von Klängen wird jedoch nicht als harmonische Symphonie, sondern als kakophonisches Durcheinander dargestellt, das den Zuhörer hin- und herreißt und ihn schließlich dazu bringt, das Dorf zu verlassen.

Die zweite Hälfte des Gedichts wendet sich der Auflösung des musikalischen Chaos zu. Nach dem Verlassen des Dorfes, wenn der Frühling anbricht und der Schnee schmilzt, begeben sich die Musikanten auf Wanderschaft. Sie ziehen in alle Himmelsrichtungen, wobei sie die zuvor getrennten Elemente des musikalischen Chaos wiedervereinen und die Welt mit Musik erfüllen. Dieses Wandern wird zur Metapher für die Verbreitung von Kunst und Kultur. In der Ferne, weit weg vom Dorf, finden sie offene Ohren und Hände, schäumende Becher und Beifallsspenden. Dies deutet darauf hin, dass die wahre Harmonie nicht in der Konzentration auf einen Ort, sondern in der Verteilung der Kunst liegt.

Der Schlussteil des Gedichts, der das Dorf im Frühling und die ausziehenden Musikanten zeigt, bietet eine versöhnliche Wendung. Die Schwalben und Störche, die dem Dorf im Herbst entflohen waren, kehren zurück. Die Musikanten, die zuvor durch ihr unharmonisches Zusammenspiel eine Abstoßung bewirkt hatten, tragen nun, wenn sie in die Welt hinausziehen, zur Harmonie bei. Jede Landschaft verwandelt sich in eine Quelle der Musik, was symbolisch für die universelle Natur der Kunst und ihre Fähigkeit, Freude und Schönheit zu verbreiten, steht. Das Gedicht endet mit einem positiven Ausblick, der die transformierende Kraft der Musik und die Bedeutung von Gemeinschaft und Verbreitung hervorhebt.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.