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Die Jungfrau

Von

Halbdunkel schon über den Thälern;
Wolken, in schwerem Zuge
Von Klippe zu Klippe sich wälzend;
Um mich zerrissene Schluchten
Und Meere von Stein, deren Wogen
Seit dem letzten Weltorkan nicht mehr branden;
Hin schweift mein Blick
Ueber Oeden, nur von Adlern bewohnt,
Empor zu den Felsensteilen,
Wo die Riesentannen,
Gleich Giganten der Vorzeit
Hoch und höher im Himmelssturme klimmend,
Sich im wallenden Dunste verlieren.

Doch sieh! zu wirbeln, zu wogen
Beginnt das Gewölk;
Die Nebeldecke zerreißt,
Und durch die stäubenden Flocken
Fern in der blauen Unendlichkeit –
Welcher Silberglanz,
Das Auge mit Strahlenschimmer blendend!
Sie ist es, sie ist′s, der Berge hohe Königin,
Auf ihrem Gletscherthrone,
Hoch über die Erde den mächtigen Scheitel erhebend,
Die riesigen Glieder
Von Schneegewanden umwallt.

Schon schweigend zu ihren Füßen
Lagert die Nacht;
Doch weithin im Strahle der sinkenden Sonne
Blitzt auf ihrem Haupt die Demantenkrone,
Und, in Nebel zerflatternd, enthüllt
Der Schleier das majestätische Antlitz.
Ueber die Stirn ihr gleitet
Bleich und golden rot
Ein wechselnder Schimmer.
Plötzlich erblassend
Vor den gähnenden Tiefen des Alls,
In die der Blick ihr hinunterstarrt,
Scheint sie zurückzubeben;
Dann wieder umfliegt
Ein rosiger Glanz ihr die Züge,
Wie Widerschein von Gedanken und Träumen,
Die ihr durch die Seele ziehen.

Giebt sie mit Geistern anderer Welten
Sich Flammenzeichen?
Oder gewahrt ihr Auge
Jenseits der Erde
Ungeahnte Geheimnisse,
Daß süßes Erschrecken
Die Wangen ihr rötet?

Doch der Schimmer erlischt;
Höher empor auf den Nebeln flutet die Nacht,
Und, den sterblichen Blicken entrückt,
Mit den Sternen dort oben
Hält die Königin Zwiegespräch.

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Gedicht: Die Jungfrau von Adolf Friedrich Graf von Schack

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die Jungfrau“ von Adolf Friedrich Graf von Schack ist eine poetische Landschaftsbeschreibung, die die majestätische Erscheinung einer schneebedeckten Berggipfel, personifiziert als Jungfrau, in den Mittelpunkt rückt. Es beginnt mit einer Schilderung der düsteren, herbstlichen Natur ringsum, die eine Atmosphäre von Einsamkeit und Erhabenheit schafft. Die Wolken, die sich über die Täler wälzen, die zerklüfteten Schluchten und die steinernen Meere, die seit einem „Weltorkan“ ruhen, dienen als Hintergrund für das Erscheinen der Jungfrau. Diese eröffnenden Strophen bereiten den Leser auf das eigentliche Thema vor: die Präsentation der Jungfrau selbst.

Die zweite Strophe ist der Höhepunkt des Gedichts. Die Nebeldecke reißt auf, und durch die Flocken offenbart sich die „Königin“, eine Bergspitze, gekleidet in „Schneegewanden“. Schack verwendet bildreiche Sprache, um die Jungfrau zu beschreiben: Ihre „Demantenkrone“ blitzt im Sonnenlicht, und ihr Antlitz, das durch den Nebel-Schleier enthüllt wird, ist majestätisch. Es ist ein Moment der Offenbarung und der Ehrfurcht, der durch die Verwendung von Licht und Schatten intensiviert wird. Die personifizierte Jungfrau wird zu einer ätherischen, fast göttlichen Gestalt erhoben, die über die irdische Welt hinausragt.

Die dritte und vierte Strophe vertiefen die mystische Atmosphäre. Die Nacht senkt sich herab, doch die Jungfrau bleibt präsent, durch ihre bleichgoldenen Wangen, die von einem „wechselnden Schimmer“ gefärbt sind. Dieser Schimmer wird als Ausdruck von Gedanken und Träumen interpretiert, die über ihr Antlitz ziehen. Die letzte Frage deutet auf die Möglichkeit einer spirituellen Verbindung zu Geistern anderer Welten oder auf die Kenntnis ungeahnter Geheimnisse hin. Dies verleiht der Jungfrau eine geheimnisvolle Aura, die sowohl Ehrfurcht als auch ein Gefühl der Distanz erzeugt.

Die abschließende Strophe markiert den Übergang zur Nacht und das Verschwinden der Jungfrau aus den Blicken der Sterblichen. Der „Schimmer erlischt“, die Nacht überflutet die Nebel, und die Jungfrau zieht sich in die Unendlichkeit des Himmels zurück, um „Zwiegespräch“ mit den Sternen zu halten. Diese Schlusspassage betont die transzendente Natur der Jungfrau und die Vergänglichkeit des irdischen Seins. Das Gedicht endet mit einem Gefühl von Ehrfurcht vor dem Unbekannten und dem Mysterium der Natur.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.