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Das Mährchen vom Geist

Von

Den verdammten Kerl, den Geist,
Müssen wir doch kriegen,
Daß dem Demagogen nicht
Wir noch unterliegen!
Zehn Mal Hunderttausend Mann!
Auf, Soldaten, drauf und dran!
Ladet die Gewehre,
Rettet unsre Ehre!

Und sie schießen wuthentbrannt
Selbst sich todt, die Blinden;
Sie vernichten Stadt und Land:
Geist – ist nicht zu finden.

Das hier ist die letzte Stadt,
Hier müßt ihr ihn fassen!
Seht! verwegen hüpft er dort
Munter durch die Gassen.
Polizei, entwickle dich!
Du ergreifst ihn sicherlich!
Ist er dein geworden,
Schmücke dich ein Orden.

Geist schaut dort, im letzten Haus,
Aus dem Erkerstübchen,
Lachet die Spione aus
Und schabt ihnen Rübchen.

Jetzt entwischt er uns nicht mehr,
Jetzt ist er gefangen!
Morgen soll der Bösewicht
Schon am Galgen hangen.
Schnell die Stufen hier hinauf!
Hurtig, sprengt die Thüre auf!
Greift den Kerl, da sitzt er!
Aus den Augen blitzt er!

Geist schlüpft in ein kleines Buch,
Deckt sich zu mit Lettern;
Sicher ist er da genug,
Wie sie spähn und blättern.

Schließt das Buch und bindet’s zu!
Ohne zu bekennen
Soll er auf dem Markt sogleich
Mit dem Buch verbrennen!
Richtet mir den Holzstoß her!
Auf, Soldaten, in’s Gewehr!
Lodert, lodert, Flammen!
Gott soll ihn verdammen!

Wundersame Melodien
Hört die stumme Menge,
Und in alle Herzen ziehn
Jene Zauberklänge.

Plötzlich donnert’s durch den Dampf
Wie ein fern Gewitter;
Lichtumflossen steigt empor
Draus ein goldner Ritter.
Auf, ihr Völker! ruft er laut,
Auf zum Freiheitskriege!
Wer dem ew’gen Geist vertraut,
Den führt er zum Siege!

Moral:

Wie sie martern ihn und wie
Trachten nach dem Leben:
Gott der Herr wird nun und nie
Seinen Geist aufgeben.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Das Mährchen vom Geist von Adolf Glaßbrenner

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Das Mährchen vom Geist“ von Adolf Glaßbrenner ist eine beißende Satire auf die versuchte Auslöschung des Geistes und der Freiheit durch autoritäre Kräfte. Es entlarvt auf humorvolle und zugleich erschreckende Weise die Absurdität und letztendliche Erfolglosigkeit des Versuchs, Ideen zu unterdrücken.

Der erste Teil des Gedichts beschreibt die hektische Jagd nach dem „Geist“ – einem Metapher für kritische Gedanken, Freiheit und möglicherweise auch Revolution. Die obrigkeitstreuen Soldaten werden in immer größerer Zahl aufgeboten, um den Geist zu ergreifen und zu vernichten. Sie zerstören wahllos Stadt und Land, in blindem Gehorsam und ohne den eigentlichen Feind zu fassen. Der Geist entzieht sich ihren Zugriffen durch verschiedene Verwandlungen, letztendlich in einem Buch versteckt. Diese Suche und Zerstörungswut ist ein Spiegelbild des Kampfes gegen Andersdenkende und fortschrittliche Ideen.

Im zweiten Teil erreicht die Verfolgung ihren Höhepunkt mit der Verbrennung des Buches, in dem sich der Geist verbirgt. Die Soldaten, symbolisch für die Obrigkeit, glauben, den Geist durch Zerstörung zu besiegen. Doch gerade aus den Flammen des Scheiterhaufens erhebt sich ein „goldner Ritter“, der die Freiheit verkörpert. Diese Metamorphose verdeutlicht, dass der Geist, die Ideen und der Kampf für die Freiheit, durch Unterdrückung nicht ausgelöscht werden können, sondern sich im Gegenteil stärken und eine neue Gestalt annehmen.

Die abschließende Moral des Gedichts betont die Unzerstörbarkeit des Geistes. Ungeachtet aller Versuche, ihn zu unterdrücken, wird Gott, also die höhere Macht oder die Idee der Freiheit, den Geist niemals aufgeben. Glaßbrenner verwendet dabei eine ironische Perspektive, indem er die Absurdität der Zensur und der Gewalt gegen Ideen aufzeigt. Das Gedicht ist eine eindringliche Warnung vor dem Kampf gegen Ideen und eine Hoffnung für die ewige Kraft des Geistes.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.