Halbes Träumen
Schon ist Mitternacht vorüber.
Draußen flötet Philomele;
Wünsche, Hoffnungen, Gedanken
Ziehen wirr durch meine Seele.
Wogend Herz, gib dich zur Ruhe,
Laß‘ die Sehnsucht endlich hafen!
Laß‘ den Steuermann, den Denker,
Laß‘ den müden Sänger schlafen!
Aber immer wilder wogt es,
Höher schlägt es seine Wellen;
Ach, am stumpfen, starren Felsen
Wird mein leichtes Schiff zerschellen!
Rettung! Rettung! Weh, verloren!
Weh, der große Mast, er bricht!
Mit dem Schiffe geh‘ ich unter,
Hilfst du, Gott im Himmel, nicht!
Und umher greif‘ ich verzweifelnd,
Und ergreife das Register
Von den neuen Ordensrittern,
Unterzeichnet vom Minister.
Fort sind plötzlich die Gedanken;
Still und ruhig ist’s im Herzen,
Endlich, endlich kann ich schlafen!
Und so lösch‘ ich denn die Kerzen.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Halbes Träumen“ von Adolf Glaßbrenner ist eine tiefgründige Auseinandersetzung mit der menschlichen Unruhe und dem vergeblichen Streben nach innerem Frieden. Es beginnt mit der Beschreibung einer Szene der Stille und des Nachts, in der die äußere Welt, repräsentiert durch die Nachtigall, ihren Gesang darbietet, während im Inneren des lyrischen Ichs ein Sturm der Gefühle tobt. Der Titel „Halbes Träumen“ deutet auf einen Zustand zwischen Wachen und Schlafen hin, in dem das Bewusstsein von Gedanken und Sehnsüchten gequält wird.
Die ersten beiden Strophen malen ein Bild des inneren Aufruhrs. Das „wogende Herz“ wird aufgefordert, sich zu beruhigen und die Sehnsucht zu stillen, doch die inneren Kräfte scheinen unkontrollierbar. Der „Steuermann, der Denker“ und der „müde Sänger“ werden als Symbole für die Kontrolle und Kreativität des Ichs beschrieben, die jedoch nicht in der Lage sind, den Sturm zu bändigen. Die Metapher des Schiffs, das auf stürmischer See fährt, verdeutlicht die Gefahr des Scheiterns und des Untergangs, die das lyrische Ich im Angesicht seiner eigenen emotionalen Turbulenzen wahrnimmt.
Die Wendung im Gedicht kommt in der vierten Strophe. Die Hoffnung auf Rettung verfliegt, und das lyrische Ich sieht seinen Untergang kommen. Der „große Mast“ bricht, was den Verlust von Hoffnung und Stabilität symbolisiert. Doch dann, in einem unerwarteten Twist, greift das lyrische Ich nach dem „Register von den neuen Ordensrittern, unterzeichnet vom Minister“. Dieser Akt, der auf bürokratische oder politische Angelegenheiten hindeutet, bewirkt eine plötzliche Stille.
Der unerwartete Umschwung von der emotionalen Krise zur Ruhe durch das „Register“ offenbart die ironische Botschaft des Gedichts. Die Probleme und der innere Aufruhr verschwinden wie durch ein Wunder, sobald das lyrische Ich sich einer scheinbar trivialen, alltäglichen Angelegenheit zuwendet. Die „Gedanken“ verschwinden, das „Herz“ beruhigt sich, und das lyrische Ich kann endlich schlafen. Das Gedicht schließt mit der nüchternen Feststellung, dass die Kerzen gelöscht werden, was die Beendigung des Tages und des Traums signalisiert. Es ist eine bitter-süße Erkenntnis, dass die Ruhe nicht durch innere Erleuchtung, sondern durch die Ablenkung von äußeren, oft banalen Dingen erreicht wird.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.