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Eine Hexengeschichte

Von

1847.

wanne swaz geoffinbaret sal werden in der sele, daz offinbaret sich in bilden.

Ich lieb′s, im Bücherstaub aus alten Tagen
Den Räthseln jüngster Tage nachzufragen.
Bunt ziehn durchs Zeitgewebe Thatenfäden,
Doch wer entwirrt Beginn und End′ für jeden?
Das Bäumlein, das der Ahn mit Sorgfalt zog
Streut in den Schooß erst Enkeln Blüth′ und Frucht;
Im Staube lag der Kiesel, dessen Wucht
Ans Riesenhaupt aus Hirtenschleuder flog;
Schon hängt der Stern am Himmel unbeachtet,
Der Andern einst erhellt, was uns umnachtet;
Und schwarz vermummt durch unsre Fastnacht schreitet
Ein alt Verhängniß, dem die Larv′ entgleitet.

Zu Düren war′s. Vorm Hexenvogte stand
Ein Mägdlein, einst des Gottesgartens Preis;
Doch knickt die Kette schnell solch junges Reis
Und Blüthen ranken schlecht an Kerkerwand.
»Bekenne!« mahnt aufs Neu des Vogts Geheiß,
»Es kam durch Satansbund, durch Zaubertrug,
Daß, wann Eisblumen rings an allen Scheiben,
Lebend′ge Rosen dir am Fenster treiben;
Daß Hagelsturm des Nachbars Kohl zerschlug,
Indeß dein Gärtlein süße Früchte trug.«
Antwortet drauf die Maid in tiefem Weh:
»Wenn Unschuld Schuld bekennt, dann wird sie Schuld!
Der Bann, der frühe Blumen lockt aus Schnee,
Liebvolle Pfleg′ ist′s, Herzensungeduld
Und Sehnsucht nach des Lenzes süßer Huld.
Doch ist′s der Mißgunst Brauch, der Ohnmacht Mühn,
Die eigne Fäulniß sehn in fremdem Blühn;
Das blankste Thun, das reinste Saatenkorn
Sie meint′s gedüngt nur von unreinem Born;
Das Reine mag ihr Auge schmerzend stören,
Drum wird′s verhängt mit eignen trüben Flören.
Du aber, meinst den Herrn so schwach und träge,
Daß er die Zügel mächt′ger Wolkenrosse,
Den Donnerkeil, des Hagelsturms Geschosse
In eines Mägdleins schwache Hände lege?
Selbst lästert, der mich will des Lästerns zeihn!«

Da winkt der Vogt. Die Schergen treten ein;
Von rohen Fäusten wird das zarte Weib
Gepackt und hingeschleppt zur blut′gen Kammer,
Denn ums Geständniß wirbt beim sünd′gen Leib
Mit neuer Qual sinnreich der »Hexenhammer«,
Wie Buben wild zerpflücken Blumensterne
Zu spähen tiefer nach dem innern Kerne.
Ein Rasseln, dann ein Schrei, der Todte weckt!
Aufschwebt ihr Leib, bis er in Lüften hängt,
Den Arm in Ketten himmelwärts gezwängt,
Den Fuß von mächt′gem Steingewicht gestreckt.
Den Vogt selbst graut; er flieht und eilt zum Wein:
»Wenn sie bekennt, ruft wieder mich herein!«

Stumm in der Schenke unter lauten Gästen
Nippt er den süßen Born vom Allerbesten.
Er schenkt den Becher voll; des Weines Welle
Fließt nieder schöngeringelt, goldighelle,
Als ob die Goldfluth blonder Locken walle,
Und mahnt ihn an die Maid in blut′ger Halle;
Dann als er nach des Weines Blume spürt,
Zur Nase kennerhaft den Römer führt,
Das süße Duften weckt ein Frühlingsahnen,
Der Maid und ihrer Blumen will′s ihn mahnen.
Und milder wird sein Herz. In raschen Sätzen
Zur Folterkammer springt er, sie zu retten,
Von fern schon rufend: »Löst Gewicht und Ketten!« –
Zu spät! Der Tod war milder. O Entsetzen:
Den heil′gen Thon hat Menschenfaust zerschlagen
Den Gott geformt in liebsten Künstlertagen!

Den Vogt packt Wahnsinn. Toben ist sein Trauern,
Zum Greis ergraut er hinter Gittermauern.

Nun wäre schier zu Ende die Geschichte,
Säh ich nicht zentnerschwer die Steingewichte
An dir, du edle Maid, Germania, hängen
Und Kettenlast auch deine Arme zwängen;
Beim Weine sitzen deine Vögt′ indessen
Wohl ihres Amts und deines Leids vergessen,
Jedoch begannen sie, wie jener endet,
Von Aberwitz und irrem Sinn geblendet.
Mit jener Maid theilst du Vergehn und Schuld:
Nach früherm Lenzbeginn die Ungeduld,
Die Furcht um alten Patriarchenkohl!
Ein andrer Ausgang wird dir Starken wohl,
Dein Arm ist Stahl und du wirst nicht erliegen,
Wirst schleudern Steingewicht′ und Ketten weit; –
Ihr Vögte, löst die Bande, da es Zeit,
Doch eilt, o eilt, bevor die Steine fliegen!

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Gedicht: Eine Hexengeschichte von Anastasius Grün

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Eine Hexengeschichte“ von Anastasius Grün aus dem Jahr 1847 ist eine eindringliche Auseinandersetzung mit dem Thema der Ungerechtigkeit, der Verfolgung und dem Kampf gegen Unterdrückung, verpackt in eine historische Erzählung über eine vermeintliche Hexe. Es bedient sich der Metapher der Hexenverfolgung, um eine Botschaft über die Tyrannei und die Manipulation der Mächtigen zu vermitteln. Das Zitat am Anfang, „wanne swaz geoffinbaret sal werden in der sele, daz offinbaret sich in bilden“, deutet an, dass innere Erfahrungen und Wahrheiten sich in Bildern manifestieren, was die symbolische Natur des Gedichts unterstreicht.

Die Geschichte beginnt mit der Verhaftung eines jungen Mädchens, das der Hexerei beschuldigt wird. Die Anklage basiert auf dem Missverständnis und der Missgunst ihrer Nachbarn und der Obrigkeit, die ihr Talent für Gartenbau und ihre Fähigkeit, Blumen im Winter zu züchten, als Beweis für einen Pakt mit dem Teufel interpretieren. Das Mädchen verteidigt sich mit Anmut und Vernunft, doch ihre Worte finden bei den engstirnigen Richtern kein Gehör. Sie weigert sich, ein falsches Geständnis abzulegen, und wird gefoltert, bis sie stirbt. Der Vogt, der zunächst die Hinrichtung befehligte, wird später vom Gewissen geplagt und verfällt dem Wahnsinn, was die verheerenden Auswirkungen von Ungerechtigkeit und Schuld verdeutlicht.

Das Gedicht verwendet eine Vielzahl von Bildern und Symbolen, um seine Botschaft zu verstärken. Die Blumen und der Garten des Mädchens stehen für Schönheit, Unschuld und das natürliche Leben, während die Kerker und die Folterkammer die Unterdrückung und die Brutalität der Obrigkeit symbolisieren. Der Vogt, der zunächst die Macht des Richters ausübt, wird zum Spiegelbild der eigenen menschlichen Schwäche und des moralischen Verfalls. Der Wein, den er trinkt, und die Erinnerungen an die Blumen, die er mit dem Mädchen verbindet, unterstreichen das Thema der Schuld und des Bedauerns.

Das Gedicht endet mit einer direkten Ansprache an „Germania“, einer allegorischen Figur für Deutschland. Die Autor*in vergleicht die Geschichte des Mädchens mit dem Schicksal des deutschen Volkes, das von Unterdrückung und Ungerechtigkeit betroffen ist. Die „Steingewichte“ und „Ketten“ symbolisieren die Last der politischen und sozialen Repression. Die letzten Zeilen sind ein Appell an die Freiheit und den Widerstand, ein Aufruf an die Nation, sich von den Fesseln der Tyrannei zu befreien und die Ungerechtigkeit zu überwinden. Damit wird das Gedicht zu einer politischen Kampfansage, die die Hoffnung auf eine bessere Zukunft verkörpert.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.