Das Morgenroth
Jüngst stand ich früh am Fenster.
Vorüber trugen schwarze Männer ernst
Im Morgenzwielicht einen off’nen Sarg.
Da flammt’ empor das Frühroth.
Der Leiche Antlitz glomm nun rosigroth,
Als sei nach kurzer Wand’rung rückgekehrt
Das Leben ins vorschnell verlass’ne Haus.
Kalt strich des Frühroths Odem.
Da hüllten sich, vor Kälte leichenblaß,
Die Männer in die schwarzen Mäntel tief,
Als wickle sie der Tod ins Leichentuch.
O wundervolles Frühroth!
Dem Tode hauchst du Gluth ins welke Antlitz,
Dem Leben hauchst du Eis in glüh’nde Pulse!
O wundervolle Liebe!
Du hauchest Eis ins wunde Herz des Lebens,
Daß es vor Frost zu Tode möcht’ erstarren!
Dein schönstes Diadem schmückt oft erst Leichen,
Dein wärmster Kuß schwelgt auf des Todes Lippen!
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Das Morgenroth“ von Anastasius Grün ist eine tiefgründige Betrachtung über die vergängliche Natur des Lebens und die widersprüchliche Kraft der Liebe, die auf einem beobachteten Begräbnis basiert. Der Dichter nutzt die Symbolik des Morgengrauens (Morgenroth), um die Dualität von Leben und Tod, Wärme und Kälte, und letztendlich die paradoxen Auswirkungen der Liebe zu erforschen. Die Szene des vorbeigetragenen Sarges, die von den „schwarzen Männern“ im Morgenzwielicht begleitet wird, setzt den melancholischen Ton für das Gedicht und bereitet den Kontrast zum aufsteigenden Morgenrot vor.
Die zentrale Metapher des Gedichts, das Morgenrot, wird als eine Art Lebensspender dargestellt, der paradoxe Auswirkungen hat. Während es das Antlitz der Leiche rosig erscheinen lässt, was an eine kurzzeitige Rückkehr des Lebens erinnert, hüllt es die lebenden Männer in eine kühle, leichenblasse Atmosphäre. Dieser Kontrast verdeutlicht die Vergänglichkeit des Lebens und die Unausweichlichkeit des Todes. Das Morgenrot, das im ersten Moment Wärme zu verheißen scheint, offenbart im nächsten Moment seine kühle, entfremdende Seite. Diese Ambivalenz wird durch die Gegenüberstellung von „Gluth“ im welken Antlitz des Toten und „Eis“ in den glühenden Pulsen der Lebenden unterstrichen.
Die zweite Hälfte des Gedichts überträgt diese Metaphorik auf die Liebe. Die Liebe wird als „wundervoll“ bezeichnet, aber ihre Auswirkungen sind ebenso widersprüchlich wie die des Morgenrots. Sie haucht „Eis“ in das „wunde Herz des Lebens“, was zu emotionaler Erstarrung und dem Gefühl des Todes führen kann. Gleichzeitig wird die Liebe mit dem Tod assoziiert, da ihre Schönheit oft erst im Angesicht des Todes zur Geltung kommt, und ihr „wärmster Kuß“ auf den Lippen des Todes schwelgt. Die Liebe wird somit als eine ambivalente Kraft dargestellt, die sowohl Leben als auch Tod, Freude und Schmerz, vereinen kann.
Insgesamt ist das Gedicht eine Reflexion über die Zyklen des Lebens und die unvermeidliche Erfahrung des Todes. Grün verwendet die Symbolik des Morgenrots und die Metapher der Liebe, um die Flüchtigkeit des Daseins und die Widersprüchlichkeiten menschlicher Emotionen zu beleuchten. Es ist eine elegische Betrachtung, die den Leser dazu anregt, über die tiefe Verbindung zwischen Leben, Tod und Liebe nachzudenken, und die Erkenntnis, dass beide, Tod und Leben, ihre Schönheit und Schmerzen in sich vereinen.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.