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Prophezeiung

Von

Einmal kommt – ich habe Zeichen –
Sterbesturm aus fernem Norden.
Überall stinkt es nach Leichen.
Es beginnt das große Morden.

Finster wird der Himmelsklumpen,
Sturmtod hebt die Klauentatzen.
Nieder stürzen alle Lumpen.
Mimen bersten. Mädchen platzen.

Polternd fallen Pferdeställe.
Keine Fliege kann sich retten.
Schöne homosexuelle
Männer kulllern aus den Betten.

Rissig werden Häuserwände.
Fische faulen in dem Flusse.
Alles nimmt ein ekles Ende.
Krächzend kippen Omnibusse.

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Gedicht: Prophezeiung von Alfred Lichtenstein

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Prophezeiung“ von Alfred Lichtenstein ist eine düstere Vision des Untergangs, die sich durch eine beklemmende Kombination aus apokalyptischen Bildern und grotesken Details auszeichnet. Der Autor entwirft eine Welt, die durch Gewalt, Verfall und Tod geprägt ist. Die Verwendung von kurzen, abgehackten Sätzen und der Verzicht auf eine konventionelle Reimstruktur verstärken den Eindruck von Chaos und Zerstörung. Die Prophezeiung selbst, die durch die scheinbar objektive Feststellung „Einmal kommt – ich habe Zeichen –“ eingeleitet wird, gewinnt durch diese Direktheit eine unheimliche Glaubwürdigkeit.

Die Beschreibung des Untergangs ist von einer starken Negativität geprägt. Der „Sterbesturm“ aus dem „fernen Norden“ wird als Auslöser für eine allumfassende Katastrophe dargestellt. Die Welt riecht nach „Leichen“, und das „große Morden“ beginnt. Der Himmel verdunkelt sich, und der „Sturmtod“ erhebt seine „Klauentatzen“. Diese Personifizierung des Todes verleiht der Katastrophe eine aktive, unheimliche Präsenz. Lichtenstein vermeidet eine romantische Verklärung des Untergangs, sondern zeigt ihn als eine brutale, ekelerregende Realität. Die im Gedicht dargestellten Bilder sind stark und verstörend, mit einer Vorliebe für Zerstörung und Verfall.

Bemerkenswert ist die Art und Weise, wie Lichtenstein konventionelle ästhetische Vorstellungen unterläuft. So werden nicht nur „Lumpen“ und „Mimen“ vom Tod heimgesucht, sondern auch „schöne homosexuelle / Männer“ und „Mädchen platzen“. Der Tod macht keinen Unterschied und trifft jeden, was die Gleichgültigkeit der Natur gegenüber menschlichen Unterschieden unterstreicht. Die Auswahl der Details – „Pferdeställe“, „Fliegen“, „Omnibusse“ – zeugt von einer Abkehr von traditionellen, erhabenen Themen zugunsten einer Alltagswelt, die in den Strudel der Zerstörung gerissen wird. Diese Mischung aus Groteskem und Alltäglichem macht die Prophezeiung umso schockierender und beklemmender.

Die „Prophezeiung“ lässt sich als eine frühe Manifestation des Expressionismus deuten, der die Zerrissenheit und den Zerfall der modernen Welt thematisierte. Lichtenstein nutzte in diesem Gedicht eine Sprache der Deformation und Übertreibung, um die Angst vor dem Verlust der Ordnung und die Erfahrung von Gewalt und Chaos auszudrücken. Das Gedicht ist somit nicht nur eine düstere Vision der Zukunft, sondern auch ein Kommentar zur Gegenwart, der die Fragilität menschlicher Existenz und die Allgegenwart des Todes in den Fokus rückt.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.