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Geisterrache

Von

Der Censor schlief, es war Mitternacht;
Da regt sich′s in seinen Schranken;
Da standen die bleichen Geister auf,
Die ermordeten Gedanken.
Sie seufzten tief, sie seufzten schwer;
Sie wankten und schwankten hin und her,
Und: wehe! wehe! wehe!
Erscholl′s in des Mörder′s Nähe,

»Ich hatte das arme Volk zu lieb!«
Erhub der Eine die Stimme.
»Ich forderte das versprochene Glück
Mit schlecht verbißenem Grimme.«
Der Dritte sprach: »Ich war munteres Blut,
Ich verwechselte ein Mal Scepter und Knut′!«
Der Vierte: »Ich war ein Tadel
Gegen den lästigen Adel.«

»Ich forderte keck das freie Wort!«
»Und ich die Gleichheit der Rechte.«
»Ich sagte: die Fürsten gehörten dem Volk.«
»Und ich: wir wären keine Knechte!«
»Ich höhnte die traurige Petition.«
»Ich aber rief: habt ihr vergessen schon?
Unterdrückt, verbietet nur fleißig:
Ein Tausend Acht hundert und dreißig!«

So sprachen sie alle in finsterm Groll,
Und schwuren Rache zum Himmel;
Drauf wirrt′s und schwirrt′s um des Schläfers Kopf,
Das böse Geister-Gewimmel.
Sie krochen durch Nase, durch Ohr und Mund;
Sie rißen am Haar ihn, sie stopften den Schlund,
Sie tobten auf seiner Stirne,
Sie schrieen in seinem Gehirne.

Früh Morgens wurde dem Censor verliehn
Ein großer, langer Orden;
Er aber sah stier auf das bunte Band,
Denn er war wahnsinnig worden. –
An jenem Schrank′, in der Nacht darauf,
Hing er mit dem Ordensbande sich auf,
Und draußen hörte der Wächter
Ein fürchterliches Gelächter.

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Gedicht: Geisterrache von Adolf Glaßbrenner

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Geisterrache“ von Adolf Glaßbrenner ist eine bissige Satire auf die Zensur und die Unterdrückung freier Meinungsäußerung im 19. Jahrhundert. Es zeichnet ein eindrucksvolles Bild der Rache, die von den durch die Zensur ermordeten Gedanken ausgeübt wird. Der Censor, als Repräsentant der Obrigkeit, wird zum Ziel des Zorns der Geister, die für die unterdrückten Ideen und Reden stehen.

Der erste Teil des Gedichts beschreibt die nächtliche Szene, in der sich die Geister, also die ermordeten Gedanken, erheben. Sie werden als bleich und gequält dargestellt, was ihre Leiden durch die Zensur verdeutlicht. Die klagenden Rufe „wehe! wehe! wehe!“ bereiten die darauffolgende Anklage vor. Die Geister erinnern sich an ihre „Verbrechen“ – ihre mutigen Forderungen nach Freiheit, Gerechtigkeit und Volkssouveränität. Die Zitate der Geister sind konkrete Beispiele für die Ideen, die der Censor unterdrückte, was die politische Dimension des Gedichts unterstreicht. Die Verse sind einfach, fast volkstümlich gehalten, was dem Gedicht eine gewisse Direktheit verleiht und die Botschaft für den Leser zugänglich macht.

Im zweiten Teil des Gedichts manifestiert sich die Rache der Geister. Sie dringen in den Censor ein, quälen ihn und machen ihn wahnsinnig. Diese bildhafte Darstellung des Wahnsinns verdeutlicht die verheerenden Folgen der Zensur für den Zensor selbst. Die Geister greifen den Zensor physisch an, was die zerstörerische Kraft unterdrückter Gedanken symbolisiert. Der Censor wird zum Opfer seiner eigenen Repression. Die Verse sind bildhaft und drastisch, wodurch die Brutalität der Geister und die Verzweiflung des Zensors hervorgehoben werden.

Das Ende des Gedichts ist von tragischer Ironie geprägt. Der Censor, der am Morgen einen Orden für seine Arbeit erhält, ist bereits dem Wahnsinn verfallen. In der folgenden Nacht erhängt er sich mit dem Ordensband, was die ultimative Niederlage der Zensur darstellt. Das fürchterliche Gelächter, das der Wächter hört, ist ein Zeichen des Triumphes der Geister und der unterdrückten Gedanken. Es signalisiert, dass die Freiheit des Geistes letztendlich unbesiegbar ist. Glaßbrenner kritisiert somit nicht nur die Zensur, sondern auch die Gesellschaft, die solche Praktiken ermöglicht, indem er die Konsequenzen dieser Unterdrückung auf drastische Weise darstellt.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.