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Der Ritt zur Schule

Von

Am Kloster San Lorenzo
Ein Bauer leise schellt,
Der am verbrämten Zaume
Fest seinen Esel hält.

Das Thier wiegt auf dem Kopfe
Stolz seinen Federschwall,
Als wär’s in seinem Volke
Schier Hof- und Feldmarschall.

Es trägt auf seinem Rücken
Den Korb von ries’gem Maß,
Dazu des Bauers Söhnlein
Und Hühnerstall und Faß.

Das Kind steckt in der Kutte
Just nach des Paters Schnitt,
Der aus der Klosterpforte
Gar feierlich jetzt tritt.

So stehn die Zwei beisammen,
Wie Löwenkatz’ und Leu,
Wie Eidechslein und Kaiman,
Wie Goldfischlein und Hai.

»Nehmt, Vater, nehmt mein Söhnlein
Mild auf in Lehr’ und Zucht.«
»Mein Sohn, sei uns willkommen!
Es findet, wer da sucht!«

»Mein Vater, und wer klopfet,
Dem wird ja aufgethan;
Gern legte sich zu Füßen
Euch dieser Puterhahn.«

»Mein Sohn, es ist die wahre,
Die fromme Furcht des Herrn,
Die in der Nacht des Lebens
Erglänzt als heller Stern.«

»Mein Vater, laßt euch munden
Den Trank aus diesem Faß;
Orvieto’s Fluren quollen
Noch nie von süß’rem Naß!«

»Mein Sohn, ‘s ist Nächstenliebe,
Die schön das Dasein krönt,
Gleichwie die Rebguirlande
Dein Schollenfeld verschönt.«

»Mein Vater, Artischocken
Und Broccoli, wie die
In diesem Korb zu Schocken,
So schöne saht ihr nie!«

»Mein Sohn, es ist die Tugend
Der Samen, den wir sä’n;
O mag das Herz der Jugend
Voll ihrer Saaten stehn!«

Auf led’gem Esel trabte
Der Bauersmann davon,
Der Weisheit Lehre labte
Alsbald den zarten Sohn.

Fast hört’ er den schon klagen:
»O arge, böse Zeit!
Die Tugend wird gesotten
In Kesseln, groß und weit!

Und, ach, die Nächstenliebe
Verblutet im Kellerverließ!
Die Furcht des Herrn, erdrosselt,
Brät an dem langen Spieß!«

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Der Ritt zur Schule von Anastasius Grün

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Der Ritt zur Schule“ von Anastasius Grün ist eine humorvolle und satirische Auseinandersetzung mit der Übergabe des Sohnes eines Bauern an ein Kloster zur Ausbildung. Es zeichnet sich durch einen Dialog zwischen dem Vater und dem Abt aus, der im Wesentlichen aus gegenseitigen Geschenken und Reden über die wichtigsten christlichen Tugenden besteht.

Der Bauer überhäuft den Abt mit materiellen Gaben wie einem Hahn, einem Fass Wein, Artischocken und Broccoli, während der Abt in pathetischen Worten über die Bedeutung von Lehre, Zucht, der Furcht Gottes, der Nächstenliebe und der Tugend predigt. Diese Gegenüberstellung enthüllt eine gewisse Heuchelei und Oberflächlichkeit in der klösterlichen Welt. Der Bauer versucht, die Gunst des Abtes durch materielle Dinge zu gewinnen, während der Abt scheinbar uneigennützig über spirituelle Werte spricht.

Die satirische Note wird durch die Reaktion des Sohnes am Ende des Gedichts verstärkt. Die Zeilen „O arge, böse Zeit! / Die Tugend wird gesotten / In Kesseln, groß und weit! / Und, ach, die Nächstenliebe / Verblutet im Kellerverließ! / Die Furcht des Herrn, erdrosselt, / Brät an dem langen Spieß!“ zeigen eine desillusionierte Sicht auf die klösterliche Erziehung, die der Junge bereits nach kurzer Zeit erlangt hat. Die Tugenden werden hier ironisch verhöhnt und in Verbindung mit Leiden und Gewalt gesetzt, was die scheinheilige Natur des Klosters und der gelehrten Werte entlarvt.

Die Verwendung von Vergleichen („Wie Löwenkatz’ und Leu“, „Wie Eidechslein und Kaiman“), die detailreiche Beschreibung des Esels und der Gaben, sowie die gereimte Form verleihen dem Gedicht eine humorvolle und lebendige Qualität. Grün kritisiert auf subtile Weise die Gesellschaft seiner Zeit und die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit in religiösen Institutionen. Die Botschaft ist klar: Der wahre Geist der Tugend und der Nächstenliebe ist im Kloster, trotz der hochtrabenden Worte, nicht unbedingt zu finden.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.