Winterabend
In gelben Fenstern trinken Schatten heißen Tee.
Sehnsüchtge wiegen sich auf hartem Schimmerteiche.
Arbeiter finden eine sanfte Damenleiche.
Johlende Dunkle werfen glimmend blauen Schnee.
An hohen Stangen hängt, verfleht, ein Streichholzmann.
Kaufläden flackern trüb durch frostbeschlagne Scheiben,
Vor denen Menschenleiber wie Gespenster treiben.
Studenten schneiden ein erfrornes Mädchen an.
Wie lieblich der kristallne Winterabend brennt!
Schon strömt ein Platinmond durch eine Häuserlücke.
Bei grünlichen Laternen unter einer Brücke
Liegt ein Zigeunerweib. Und spielt ein Instrument.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Winterabend“ von Alfred Lichtenstein fängt die trostlose und morbide Atmosphäre eines winterlichen Großstadtabends ein. Es präsentiert eine Reihe verstörender Bilder, die von einer düsteren Grundstimmung durchzogen sind und die Kälte sowohl physisch als auch emotional widerspiegeln. Die Verwendung von Kontrasten, wie der Sehnsucht, die sich auf „hartem Schimmerteiche“ wiegt, oder der „sanften Damenleiche“, unterstreicht die Entfremdung und das Elend der modernen Existenz. Die Sprache ist prägnant und verwendet überraschende Wortkombinationen, um die Absurdität und Hässlichkeit des urbanen Lebens hervorzuheben.
Lichtenstein greift in dem Gedicht Elemente des Expressionismus auf, einer Kunstrichtung, die sich durch die Darstellung extremer Emotionen und die Verzerrung der Realität auszeichnet. Die beschriebenen Szenen, wie das Auffinden einer Leiche oder das Anscheiden eines erfrorenen Mädchens, sind drastisch und verstörend. Sie dienen dazu, die Zerrissenheit und die sozialen Missstände der Zeit zu thematisieren. Die „johlenden Dunklen“, die „glimmend blauen Schnee“ werfen, sind ein weiteres Beispiel für die Darstellung einer entmenschlichten Gesellschaft, in der Gewalt und Gleichgültigkeit vorherrschen.
Die ironische Schlusszeile „Wie lieblich der kristallne Winterabend brennt!“ ist ein zentrales Element des Gedichts. Sie verstärkt die Ambivalenz und den schwarzen Humor, die Lichtensteins Werk kennzeichnen. Die Beschreibung des Abends als „lieblich“ steht in starkem Kontrast zu den zuvor dargestellten Bildern von Tod, Elend und Kälte. Dies deutet auf eine tiefere Verzweiflung und eine Kritik an der scheinbaren Schönheit und Harmonie, die die Gesellschaft vorgibt. Die Anwesenheit des Zigeunerweibs und des spielenden Instruments unter einer Brücke bietet einen Hoffnungsschimmer, ein Zeichen von menschlicher Wärme und Kunst inmitten der Kälte.
Das Gedicht ist ein eindringliches Porträt einer entfremdeten und desillusionierten Gesellschaft. Lichtenstein nutzt die Bilder des winterlichen Abends, um die Einsamkeit, das Elend und die soziale Ungerechtigkeit darzustellen, die das Leben in der Großstadt prägen. Durch die Verwendung von verstörenden Bildern, überraschenden Wortkombinationen und ironischer Distanz gelingt es ihm, eine düstere Atmosphäre zu erzeugen, die den Leser zum Nachdenken über die Bedingungen des modernen Lebens anregt. Die Verwendung von Metaphern wie dem „Streichholzmann“ oder dem „Platinmond“ verleiht dem Gedicht eine zusätzliche symbolische Ebene, die die Interpretationsmöglichkeiten des Textes erweitert.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.