Logo der Website, Schriftzug "Poesie Oase" mit Palmen umrandet.
, , , , ,

Der Unbekannte

Von

Durch das enge Thor des Städtchens
Zieht ein alter Bettler fort,
Niemand spendet ihm Geleite,
Lebewohl und Abschiedswort.

Nicht verräth die graue Wolke,
Daß sie Botschaft Gottes trägt;
Nicht verräth der graue Felsen,
Daß er Schachte Goldes hegt.

Und dem kahlen Baum im Winter
Seht ihr’s auch nicht an sogleich,
Daß er einst so fröhlich grünte
Und an Blüth’ und Frucht so reich.

Von dem Mann am Bettelstabe
Hätt’ es Keiner wohl geglaubt,
Daß er einst im Purpur strahlte
Kronumglänzt sein Lockenhaupt!

Meuter rissen ihm die Krone
Und den lichten Purpur ab,
Reichten ihm, anstatt des Zepters,
Einen morschen Wanderstab.

Und so wallt er schon seit Jahren,
Ungegrüßt und ungekannt,
Mit dem schwergebeugten Haupte
Durch so manches fremde Land.

Müde, todesmüde sinkt er
Unter einen Blüthenbaum,
Von den Zweigen eingesungen
In den tiefen, ew’gen Traum.

Menschen, die vorübergingen,
Sprachen da in stillem Gram:
Wer ist wohl der arme Alte,
Der so elend hier verkam?

Doch Natur mit lichtem Auge
Hat den Schläfer wohl erkannt,
Und ein feierlich Begängniß,
Wie’s dem König ziemt, gesandt.

Blüthenkränze wehn vom Baume
Ihm als Kron’ aufs Haupt herab,
Und zum Zepter übergoldet
Sonne ihm den Bettelstab.

Rauschend wölben sich die Zweige
Ueber ihm als Baldachin,
Und den königlichen Purpur
Legt das Abendroth auf ihn.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Der Unbekannte von Anastasius Grün

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Der Unbekannte“ von Anastasius Grün erzählt die Geschichte eines einstigen Königs, der durch Umstände in Armut und Vergessenheit geraten ist, bevor er auf sanfte Weise in den Tod übergeht. Das Gedicht nutzt eine Reihe von Bildern, um die vergängliche Natur von Macht, Reichtum und menschlicher Wertschätzung zu thematisieren, während es gleichzeitig die beständige Anerkennung und das Mitgefühl der Natur hervorhebt.

Der erste Teil des Gedichts konzentriert sich auf die äußere Erscheinung des Bettlers und das mangelnde Mitgefühl der Menschen. Niemand schenkt dem alten Mann Beachtung oder gibt ihm Geleit, was seine Isolation und das Verlustgefühl unterstreicht. Die Natur, repräsentiert durch Wolken, Felsen und den kahlen Baum, wird als stiller Zeuge des Wandels und des verborgenen Potenzials beschrieben – ein Hinweis auf die verborgene königliche Vergangenheit des Bettlers. Die Metaphern der Natur – die Wolke, die Botschaft Gottes trägt, und der Felsen, der Gold birgt – deuten auf tieferliegende, verborgene Wahrheiten und die Fähigkeit, über die Oberfläche hinauszublichen.

Der zweite Teil enthüllt die Vergangenheit des Bettlers, der einst im Purpur strahlte und eine Krone trug. Die „Meuter“ (Rebellen) rissen ihm seine Macht und seinen Reichtum, und er wurde zum Bettler degradiert. Diese Geschichte erinnert an die Unbeständigkeit des Schicksals und die Vergänglichkeit menschlicher Herrschaft. Der „morsche Wanderstab“ symbolisiert den Verlust von Macht und Würde. Der Bettler wandert durch viele Länder, ungegrüßt und unbekannt, was seine weitere Entfremdung und sein tiefes Gefühl der Isolation unterstreicht.

Der dritte Teil des Gedichts beschreibt den Tod des Bettlers unter einem blühenden Baum. Dieser Baum, der zuvor als kahl beschrieben wurde, steht nun für die Schönheit und Erneuerung der Natur. Der Bettler findet im Tod Ruhe und Geborgenheit, während die Natur ihm ein würdevolles Begräbnis bereitet. Die Natur, mit ihrem „lichten Auge“, erkennt den einstigen König und ehrt ihn mit Blumenkränzen und dem goldenen Schein der Sonne. Der Baum wird zu einem Baldachin und das Abendrot zu seinem Purpur. Diese Szene steht im starken Kontrast zu der Kälte und Gleichgültigkeit der Menschen. Die Natur wird hier als eine Quelle des Mitgefühls und der Anerkennung dargestellt, die dem Bettler in seinem Tod das zurückgibt, was ihm im Leben verwehrt wurde.

Zusammenfassend ist das Gedicht eine Betrachtung über die Vergänglichkeit irdischer Macht und die bleibende Bedeutung von Natur und Mitgefühl. Es betont die wechselhaften Umstände des Lebens, die oft die wahre Identität verdecken, und zeigt, wie die Natur, als ständiger Zeuge und Bewahrer, dem Menschen am Ende einen würdevollen Abschied bereitet. Die Verwendung von Naturmetaphern und der Kontrast zwischen menschlicher Gleichgültigkeit und natürlichem Mitgefühl erzeugen eine tief bewegende und philosophische Botschaft.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.