Logo der Website, Schriftzug "Poesie Oase" mit Palmen umrandet.
, , , , , , , , , ,

Der gefangene Räuber

Von

Von Sabinerbergen nieder
Wallt das braune Räuberweib,
Schmiegend ihres Knäbleins Glieder
Sorglich fest an ihren Leib.

Wie sie tritt durch Roma’s Pforte,
Glocken, Trommeln und Gebet!
Ist’s ein Fest, ist Markt am Orte?
Beides hier gar nahe steht!

Feierklänge von Sankt Peter!
Dudelsack hier schnarrend grell!
Possen reißen heil’ge Väter,
Salbung predigt Pulcinell.

Affen, Charlatane, Springer,
Auf dem Seile Gauklertritt!
Jetzt an fremder Bestien Zwinger
Lenkt das Räuberweib den Schritt.

Ab und auf in wildem Satze
Tobt ein Königstiger hier,
An den Käfig schlägt die Tatze,
Glühend flammt das Aug’ dem Thier.

»Mutter, warum sperrt das gute,
Schöne Thier so fest man ein?«
»Kind, weil’s durstig lechzt nach Blute,
Weil’s unbändig, wild im Frei’n.«

Ruhig nebendran im Bauer
Sitzt ein fremdes Täublein zart,
Senkt das Haupt in milder Trauer
Ins Gefieder weißbehaart.

»Mutter, warum schließt dieß gute,
Fromme Vöglein auch man ein?
Dieses lechzt doch nicht nach Blute?«
»Kind, weil’s trägt zwei Flügelein.«

Kapitols Steintreppen stiegen
Sie empor im Menschenstrom,
Wo gesehn nach Kränzen fliegen
Seine alte Kraft einst Rom!

Wo es jetzt auch seine echte
Ungeschwächte, rauhe Kraft,
Doch gefahn, in Kerkernächte,
Seine Räuber, hingeschafft!

Seht dort der Gefangnen Einen
Rasch, am Fenster, pfeilgeschwind!
Zu ihm hebt das Weib den Kleinen:
»Siehe deinen Vater, Kind!«

Auf das Kind durch Eisenstangen
Blickt der Mann so blaß und mild,
Herzt es lachend, ob die Wangen
Thränenfluth auch überquillt;

Ueberdeckt ihm ganz mit Küssen
Zärtlich Wang’ und Aeugelein;
Und das Kind hat denken müssen
Jener Taube, fromm und rein.

Nun sie Lebewohl ihm sagen,
Sträubt sein Haar sich auf in Wuth,
Seine Fäust’ ans Gitter schlagen
Und sein Auge rollt in Gluth!

Doch die Mutter fest umfangend,
Flieht das Kind dieß grause Bild;
Und gedenken muß es bangend
Jenes Königstigers wild.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Der gefangene Räuber von Anastasius Grün

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Der gefangene Räuber“ von Anastasius Grün entfaltet in eindringlichen Bildern die Thematik von Freiheit, Gefangenschaft und der Relativität von Gut und Böse. Es beginnt mit einer Szene, in der ein Räuberweib mit ihrem Kind durch Rom zieht und auf dem Weg auf verschiedene Aspekte des menschlichen Lebens trifft, die als Kontraste zur eigenen Situation des Gefangenseins und der Unfreiheit dienen.

Die ersten Strophen beschreiben die äußere Welt mit ihren Festen, dem Markt und den verschiedenen Unterhaltungskünstlern, die als Teil der römischen Kultur präsentiert werden. Die Begegnung mit dem Königstiger im Käfig und der sanften Taube im Nebenzwinger führt das Kind dazu, seine Mutter nach den Gründen für die Gefangenschaft zu fragen. Die Antworten offenbaren eine tiefe Ironie: Der Tiger wird wegen seines „durstigen Lechzens nach Blute“ eingesperrt, während die Taube lediglich wegen ihrer „zwei Flügelein“ gefangen gehalten wird. Dies deutet auf eine willkürliche und ungerechte Natur der Gefangenschaft hin.

Der Höhepunkt des Gedichts ist die Begegnung mit dem gefangenen Vater, dem Räuber. Der Vater, trotz seiner physischen Gefangenschaft, zeigt Zärtlichkeit und Liebe für sein Kind. Die Emotionen des Kindes schwanken zwischen Liebe und Angst, wobei es sich sowohl an die Sanftheit der Taube als auch an die Wildheit des Tigers erinnert. Der Kontrast zwischen dem weichen, liebevollen Verhalten des Vaters und dem Gefühl der Unterdrückung durch seine Gefangenschaft wird durch die abschließenden Zeilen verstärkt, in denen das Kind, von den Bildern des Tigers und des Vaters verfolgt, die Szene verlässt.

Die zentrale Botschaft des Gedichts ist die kritische Auseinandersetzung mit den Begriffen von Freiheit und Gefangenschaft sowie mit der Wahrnehmung von Gut und Böse. Grün hinterfragt die gesellschaftlichen Normen und die scheinbare Gerechtigkeit, indem er die Ungleichheit der Behandlung von Tiger und Taube hervorhebt. Die Geschichte wirft somit Fragen nach Schuld, Sühne und der moralischen Bewertung von Menschen auf, die durch die Umstände ihres Lebens in die Enge getrieben werden.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.