XII. Ist ir liep mîn leit
I
Ist ir liep mîn leit und mîn ungemach,
wie kan ich danne iemer mêre rehte werden vrô?
sî getrûrte nie, swaz sô mir geschach.
klaget ich ir mîn jâmer, sô stuont ir daz herze hô.
Sîst noch hiute vor den ougen mîn, alse sî was dô,
dô si minneclîche mir zuo sprach
und ich si ane sach.
ôwê, solte ich iemer stên alsô.
II
Sî hât liep ein kleine vogellîn,
daz ir singet oder ein lützel nâch ir sprechen kan.
muost ich dem gelîch ir heimlich sîn,
sô swüere ich des wol, daz nie vrowe solhen vogel gewan.
Vür die nahtegal wolte ich hôhe singen dan:
„ôwê, liebe schoene vrowe mîn,
nû bin ich doch dîn,
mahtu troesten mich vil senenden man!“
III
Sîst mit tugenden und mit werdecheit
sô behuot vor aller slahte unvrowelîcher tât,
wan des einen, daz si mir verseit
ir gnâde unde mînen dienest sô verderben lât.
Wol mich des, daz sî mîn herze sô besezzen hât,
daz der stat dâ nieman wirt bereit
als ein hâr sô breit,
swenne ir rehtiu liebe mich bestât.
IV
Hôher wunne hât uns got gedâht
an den reinen wîben, die er in rehter güete werden lie.
daz vil manigen herzen wol ist kunt.
von ir rôten munt ist gehoehet dicke mir der muot.
Von ir schoene kumt, swaz iemen vröiden hât.
dâ von müezens iemer geêret sîn,
sît diu vröide mîn
gar an einer hôchgelobten stât.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „XII. Ist ir liep mîn leit“ von Heinrich von Morungen ist eine tiefgründige Liebeserklärung, die von Sehnsucht, unerwiderter Zuneigung und der Verehrung der Geliebten geprägt ist. Das Gedicht offenbart die Zerrissenheit des Sprechers zwischen der Freude an der Schönheit und Tugend der Dame und dem Schmerz der Ablehnung. Es ist eine komplexe Mischung aus Bewunderung, Hoffnung und Verzweiflung.
Im ersten Abschnitt beklagt der Sprecher sein Leid und Unbehagen aufgrund der fehlenden Gegenliebe. Die Dame scheint unberührt von seinem Schmerz zu sein, was ihn tief betrübt. Er erinnert sich sehnsüchtig an den Moment, als sie ihn ansprach, und wünscht sich, dieser Zustand möge ewig andauern. Dies deutet auf eine tiefe Fixierung auf die geliebte Person hin, die sein ganzes Empfinden bestimmt. Die Betonung des Schmerzes und der Sehnsucht deutet auf eine unglückliche, unerwiderte Liebe hin.
Der zweite Abschnitt zeigt eine seltene Mischung aus Bewunderung und dem Wunsch nach Intimität. Der Sprecher vergleicht sich mit einem kleinen Vogel, das der Dame gefällt. Er wünscht sich, ihrem Herzen auf diese Weise nahe zu sein, und würde sein Gesang über den der Nachtigall erheben, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Dieser Abschnitt offenbart eine kindliche Sehnsucht nach Zuwendung und der Wunsch, auf eine einfache, aber intime Weise Teil ihres Lebens zu sein.
Der dritte Abschnitt verweist auf die Tugendhaftigkeit und Unnahbarkeit der Dame, die ihren Reiz noch verstärken. Sie ist vor schlechten Taten bewahrt, außer im Umgang mit dem Sprecher, dem sie ihre Gnade verweigert. Trotz dieser Ablehnung ist er froh, dass sein Herz von ihr besessen ist, und findet Trost in ihrer Existenz, selbst wenn er ihr nicht nahe sein kann. Dies zeigt die widersprüchliche Natur der Liebe, die sowohl Freude als auch Schmerz bringen kann.
Der vierte Abschnitt feiert die Schönheit und Reinheit der Frauen im Allgemeinen und die Geliebte im Besonderen, die Quelle seiner Freude ist. Ihr roter Mund erhellt seine Stimmung, und ihre Schönheit ist der Ursprung all seiner Freuden. Er preist sie als tugendhaft und lobt sie als unersetzlich, was darauf hindeutet, dass seine ganze Welt von ihrer Existenz abhängt. Das Gedicht endet mit einer hoffnungsvollen Note, die die Beständigkeit seiner Liebe und Verehrung betont.
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Lizenz und Verwendung
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