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Warum gabst du uns die tiefen Blicke…

Von

Warum gabst du uns die tiefen Blicke,
unsre Zukunft ahndungsvoll zu schaun,
unsrer Liebe, unsrem Erdenglücke
wähnend selig nimmer hinzutraun?
Warum gabst uns, Schicksal, die Gefühle,
uns einander in das Herz zu sehn,
um durch all die seltenen Gewühle
unser wahr Verhältnis auszuspähn?

Ach, so viele tausend Menschen kennen,
dumpf sich treibend, kaum ihr eigen Herz,
schweben zwecklos hin und her und rennen
hoffnungslos in unversehnen Schmerz;
jauchzen wieder, wenn der schnellen Freuden
unerwart′te Morgenröte tagt.
Nur uns armen liebevollen Beiden
ist das wechselseitge Glück versagt,
uns zu lieben, ohn uns zu verstehen,
in dem anderen zu sehen, was er nie war,
immer frisch auf Traumglück auszugehen
und zu schwanken auch in Traumgefahr.

Glücklich, den ein leerer Traum beschäftigt!
Glücklich, dem die Ahndung eitel wär!
Jede Gegenwart und jeder Blick bekräftigt
Traum und Ahndung leider uns noch mehr.
Sag, was will das Schicksal uns bereiten?
Sag, wie band es uns so rein genau?
Ach, du warst in abgelebten Zeiten
meine Schwester oder meine Frau.

Kanntest jeden Zug in meinem Wesen,
spähtest, wie die reinste Nerve klingt,
konntest mich mit einem Blicke lesen,
den so schwerlich ein sterblich Aug durchdringt;
tropftest Mäßigung dem heißen Blute,
richtetest den wilden irren Lauf,
und in deinen Engelsarmen ruhte
die zerstörte Brust sich wieder auf;
hieltest zauberleicht ihn angebunden
und vergaukeltest ihm manchen Tag.
Welche Seligkeit glich jenen Wonnestunden,
da er dankbar dir zu Füßen lag,
fühlt′ sein Herz an deinem Herzen schwellen,
fühlte sich in deinem Auge gut,
alle seine Sinne sich erhellen
und beruhigen sein brausend Blut!

Und von allem dem schwebt ein Erinnern
nur noch um das ungewisse Herz,
fühlt die alte Wahrheit ewig gleich im Innern,
und der neue Zustand wird ihm Schmerz.
Und wir scheinen uns nur halb beseelet,
dämmernd ist um uns der hellste Tag.
Glücklich, dass das Schicksal, das uns quälet,
uns doch nicht verändern mag!

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Gedicht: Warum gabst du uns die tiefen Blicke... von Johann Wolfgang von Goethe

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Warum gabst du uns die tiefen Blicke…“ von Johann Wolfgang von Goethe ist eine tiefgründige Reflexion über die Tragik einer Liebe, die von tiefer Erkenntnis und Vorahnung geprägt ist. Es ist ein Dialog mit dem Schicksal, der die Frage nach dem Warum aufwirft, warum dem lyrischen Ich und seiner geliebten Person die Fähigkeit gegeben wurde, die Zukunft zu erahnen und die Feinheiten ihrer gegenseitigen Gefühle zu erkennen. Diese Fähigkeit führt jedoch nicht zu Glück, sondern zu einer ewigen Unruhe und dem Bewusstsein über die Vergänglichkeit des irdischen Glücks.

Goethe kontrastiert in diesem Gedicht die Situation des lyrischen Ichs mit der der „tausend Menschen“, die „dumpf sich treibend“ kaum ihr eigenes Herz kennen und sich blindlings durch das Leben bewegen. Diese Menschen erfahren zwar Schmerz, aber auch die flüchtigen Freuden, die dem lyrischen Ich und seiner Geliebten versagt bleiben. Die tiefe Verbindung, die sie haben, wird zur Last, da sie nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Zukunft ihrer Beziehung vorhersieht. Die Liebe ist nicht unbeschwert, sondern von der Kenntnis des bevorstehenden Verlusts und der Unmöglichkeit eines dauerhaften Glücks überschattet.

Der dritte Versabschnitt deutet auf eine frühere, vielleicht sogar vorangegangene Beziehung in einem anderen Leben an: „Ach, du warst in abgelebten Zeiten / meine Schwester oder meine Frau.“ Dies verstärkt das Gefühl des Unvermeidlichen und des Schicksalhaften ihrer Verbindung, die über die Grenzen des gegenwärtigen Lebens hinausreicht. Die Erinnerung an diese Vergangenheit ist ein zentrales Motiv, das die gegenwärtige Situation des lyrischen Ichs prägt und seine Sehnsucht nach einem Zustand unbeschwerter Glückseligkeit verstärkt. Die Erinnerung an die „Engelsarme“ und die „Wonnestunden“ kontrastiert mit der gegenwärtigen „halb beseelet[en]“ Existenz.

Das Gedicht endet mit einer bittersüßen Erkenntnis. Obwohl das Schicksal die Liebenden quält, kann es sie nicht verändern. Die alte Wahrheit bleibt bestehen, und der neue Zustand ist Schmerz. Die Schlusspassage suggeriert eine gewisse Resignation und die Akzeptanz des Leidens, das aus der tiefen Verbindung und dem Bewusstsein ihrer gemeinsamen Geschichte resultiert. Das Gedicht ist ein Appell an die Ewigkeit der Liebe und die Unveränderlichkeit des Schicksals, das die Liebenden dazu verurteilt, die Tiefe ihrer Gefühle und die Unvollkommenheit ihres Glücks zu erkennen.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.