Unschuld
Schönste Tugend einer Seele,
Reinster Quell der Zärtlichkeit!
Mehr als Byron, als Pamele,
Ideal und Seltenheit!
Wenn ein andres Feuer brennet,
Flieht dein zärtlich schwaches Licht.
Dich fühlt nur, wer dich nicht kennet;
Wer dich kennt, der fühlt dich nicht.
Göttin, in dem Paradiese
Lebtest du mit uns vereint;
Noch erscheinst du mancher Wiese
Morgens, eh′ die Sonne scheint.
Nur der sanfte Dichter siehet
Dich im Nebelkleide zieh′n:
Phöbus kommt, der Nebel fliehet,
Und im Nebel bist du hin.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Unschuld“ von Johann Wolfgang von Goethe feiert in einem kurzen, lyrischen Werk die Tugend der Unschuld, wobei es sie gleichzeitig als etwas Flüchtiges und Unerreichbares darstellt. Das Gedicht beginnt mit einer direkten Ansprache der Unschuld, indem es sie als die „Schönste Tugend einer Seele“ und den „Reinster Quell der Zärtlichkeit!“ preist. Diese positive Beschreibung unterstreicht die hohe Wertschätzung des lyrischen Ichs für die Unschuld, die über andere, bekannte Ideale hinausgeht.
Der zweite Teil des Gedichts führt eine tiefere Ambivalenz ein. Die Unschuld wird als etwas dargestellt, das in Gegenwart von „anderem Feuer“ – vermutlich Leidenschaft, Wissen oder Erfahrung – verblasst. Die Zeile „Dich fühlt nur, wer dich nicht kennet; / Wer dich kennt, der fühlt dich nicht.“ deutet darauf hin, dass die wahre Unschuld nur von denen erfahren werden kann, die sie nicht besitzen. Wer die Unschuld wirklich kennt, hat sie bereits verloren oder ist nicht mehr in der Lage, sie aufrichtig zu empfinden. Dies impliziert eine tragische Dimension der Unschuld: Sie ist etwas Kostbares, das man nicht festhalten kann.
Im zweiten Teil des Gedichts wird die Unschuld mit einer „Göttin“ verglichen, die einst im Paradies lebte. Diese Metapher verstärkt die erhabene und ideale Natur der Unschuld. Die Erwähnung der Morgensonne und des Nebels deutet auf ihre Verbindung zur Natur und zu vergänglichen Momenten der Schönheit hin. Der „sanfte Dichter“ scheint in der Lage zu sein, die Unschuld im Nebel zu sehen, bevor die Sonne sie vertreibt. Der Übergang von Nebel zu Sonne symbolisiert den Verlust der Unschuld durch das Eindringen von Wissen und Realität.
Insgesamt ist das Gedicht eine melancholische Reflexion über die Unschuld. Es preist ihre Schönheit und Reinheit, zeigt aber gleichzeitig auf, dass sie im Laufe des Lebens unausweichlich verloren geht. Die Sprache ist feierlich und poetisch, mit Anspielungen auf klassische Ideale und einer klaren Struktur, die die zentralen Themen hervorhebt. Goethes Gedicht ist eine ergreifende Meditation über die Natur der menschlichen Erfahrung und die Vergänglichkeit des Ideals.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.