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Trübe Stunde
Im sinkenden Abend, wenn die Fischer in den Meerhäfen ihre Kähne rüsten,
 In der austreibenden Flut, die braunen Masten zitternd vor dem Wind –
 Seele, wirfst du zitternd dich ins Segel, gierig nach entlegnen Küsten,
 Dahin die Wunder deiner Nächte dir entglitten sind?
Oder bist du so wehrlos deiner Sterne Zwang verfallen,
 Daß dich ein irrer Wille nur ins Ferne, Uferlose drängt –
 Auf wilden Wassern schweifend, wenn die Stürme sich in deines Schiffes Rippen krallen,
 Und Nacht und Wolke endlos graues Meer und grauen Himmel mengt?
Und wütest du im Dunkel gegen dein Geliebtes und erwachst mit strömend tiefen Wunden,
 Das Auge matt, dein Blut verbrannt und deiner Sehnsucht Schwingen leer,
 Und siehst, mit stierem Blick, und unbewegt an deines Schicksals Mast gebunden
 Den Morgen glanzlos schauern überm Meer?
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Trübe Stunde“ von Ernst Stadler zeichnet ein Bild tiefgreifender innerer Unruhe und Zerrissenheit. Es ist eine Reflexion über das Gefühl der Entfremdung, des Verlustes und der Orientierungslosigkeit, die sich in einer düsteren Abendstimmung manifestiert. Der Dichter verwendet maritime Metaphern, um die seelische Verfassung darzustellen, und vergleicht die Seele mit einem Schiff, das von Sehnsüchten und Stürmen gepeinigt wird.
Der erste Abschnitt etabliert die Atmosphäre der Traurigkeit und des Unbehagens. Die sinkende Abendsonne, die Fischer, die ihre Kähne vorbereiten, und das Zittern der Masten im Wind schaffen ein Gefühl der Unruhe und des Aufbruchs, aber auch der Vergänglichkeit. Die Frage, ob die Seele sich gierig nach fernen Küsten sehnt, deutet auf eine Suche nach etwas Unerreichbarem oder Verlorenem hin. Die „Wunder der Nächte“, die entglitten sind, weisen auf vergangene Glücksmomente oder Hoffnungen hin, die nicht mehr erreichbar sind, was die melancholische Stimmung verstärkt.
Der zweite Abschnitt vertieft die Zerrissenheit und das Gefühl der Machtlosigkeit. Die Seele scheint dem „Zwang der Sterne“ unterworfen zu sein, einem unkontrollierbaren Schicksal, das sie ins „Ferne, Uferlose“ treibt. Die „wilden Wasser“ und die „Stürme“, die sich in den „Rippen des Schiffes krallen“, symbolisieren die Turbulenzen und Schwierigkeiten, denen die Seele ausgesetzt ist. Die Vermischung von Nacht, Wolke, grauem Meer und grauem Himmel verstärkt das Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Orientierungslosigkeit.
Im abschließenden Abschnitt erreicht die innere Zerrissenheit ihren Höhepunkt. Die Seele wütet im Dunkel, möglicherweise gegen das Geliebte oder gegen das Schicksal selbst, und erwacht mit „strömend tiefen Wunden“. Das „matte Auge“, das „verbrannte Blut“ und die „leeren Sehnsuchtsschwingen“ beschreiben den Zustand völliger Erschöpfung und Desillusionierung. Das Bild des „glanzlosen Morgens“, der über dem Meer „schauert“, symbolisiert das Ende der Hoffnung und das unfähige Akzeptieren des eigenen Schicksals. Das Gedicht ist somit ein tiefgründiger Ausdruck menschlicher Verzweiflung und innerer Leere.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.