Sie, zu ihm
Ich hab dir alles hingegeben:
mich, meine Seele, Zeit und Geld.
Du bist ein Mann – du bist mein Leben,
du meine kleine Unterwelt.
Doch habe ich mein Glück gefunden,
seh ich dir manchmal ins Gesicht:
Ich kenn dich in so vielen Stunden –
nein, zärtlich bist du nicht.
Du küßt recht gut. Auf manche Weise
zeigst du mir, was das ist: Genuß.
Du hörst gern Klatsch. Du sagst mir leise,
wann ich die Lippen nachziehn muß.
Du bleibst sogar vor andern Frauen
in gut gespieltem Gleichgewicht;
man kann dir manchmal sogar trauen …
aber zärtlich bist du nicht.
O wärst du zärtlich!
Meinetwegen
kannst du sogar gefühlvoll sein.
Mensch, wie ein warmer Frühlingsregen
so hüllte Zärtlichkeit mich ein!
Wärst du der Weiche von uns beiden,
wärst du der Dumme. Bube sticht.
Denn wer mehr liebt, der muß mehr leiden.
Nein, zärtlich bist du nicht.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Sie, zu ihm“ von Kurt Tucholsky ist eine schonungslose und melancholische Bestandsaufnahme einer Beziehung, die von der Protagonistin aus einer weiblichen Perspektive heraus betrachtet wird. Es ist eine Liebeserklärung, die sich jedoch in erster Linie in der Feststellung eines Mangels äußert: Der Geliebte ist nicht zärtlich. Die Frau hat dem Mann alles gegeben, was sie besaß, doch das emotionale Band scheint brüchig.
Das Gedicht entwickelt sich in drei Strophen, die jeweils denselben Refrain beinhalten: „nein, zärtlich bist du nicht.“ Die ersten beiden Strophen beschreiben die positiven und negativen Aspekte des Mannes. Er küsst gut, versteht es, Vergnügen zu bereiten und achtet auf Äußerlichkeiten. Zudem ist er treu und hält sich im Gleichgewicht gegenüber anderen Frauen. Doch all diese Eigenschaften können den zentralen Mangel nicht ausgleichen. Der Mann ist nicht zärtlich, was für die Frau offenbar von zentraler Bedeutung ist. Die Beschreibung der positiven Eigenschaften dient somit als Kontrast, der die Sehnsucht nach Zärtlichkeit noch verstärkt.
Die dritte Strophe ist eine direkte Anrufung und ein Ausdruck der Sehnsucht. Die Frau träumt davon, wie Zärtlichkeit ihr Leben verändern würde. Sie wäre bereit, sogar das „Gefühlvollsein“ des Mannes zu akzeptieren, um die ersehnte Zärtlichkeit zu empfangen. Der letzte Vers wirft jedoch ein tiefgründiges, bitteres Licht auf die Beziehung. Indem die Frau akzeptiert, dass Zärtlichkeit nicht vorhanden ist, scheint sie gleichzeitig zu erkennen, dass die Liebe oft ein Ungleichgewicht beinhaltet, bei dem der Liebende, der mehr liebt, auch mehr leiden muss.
Tucholsky gelingt es, mit einfachen, klaren Worten eine komplexe emotionale Dynamik zu erzeugen. Das Gedicht ist nicht nur eine Klage, sondern auch ein Ausdruck der Erkenntnis und der Selbstbehauptung. Die Frau akzeptiert die Realität, ihre Sehnsucht bleibt jedoch bestehen. Der Refrain „nein, zärtlich bist du nicht“ ist nicht nur eine Feststellung, sondern auch ein resignierter, aber kraftvoller Ausdruck der Enttäuschung und der trotzigen Akzeptanz der gegebenen Umstände. Das Gedicht ist ein eindringliches Porträt einer Liebe, die ohne die elementare Zärtlichkeit verbleiben muss.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.