Rotundenzensur in Königsberg
Die hiesige Garnisonverwaltung –
(wir sind schon weit in der Kultur)
die brauchte zwecks Toilettegestaltung
Papier – und zwar Makulatur.
Doch darf kein Blatt von jener Sorte,
so roh, so rot und so verderbt
darunter sein – An solchem Orte
kann man nie wissen, ob das färbt.
Ertappt man etwa die Rekruten,
und lesen sie solch ein Traktat,
und grad, wenn sie – Reveille tuten:
das wäre glatter Hochverrat!
Wir dürfen dieses nicht beklagen! –
… ›Kreuzzeitung‹ … ›Post‹ – nun – weg ist weg!
Und sie erreichen sozusagen
den eigentlichen Bestimmungszweck.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Rotundenzensur in Königsberg“ von Kurt Tucholsky ist eine satirische Auseinandersetzung mit der preußischen Bürokratie und deren übertriebenen Kontrollmechanismen, verpackt in eine scheinbar banale Anekdote über die Beschaffung von Makulaturpapier für eine Militärtoilette. Tucholsky nutzt die Situation, um die Absurdität und Übervorsichtigkeit der Obrigkeit zu persiflieren. Die Ironie des Gedichts entsteht aus dem krassen Missverhältnis zwischen dem Anlass – dem Bedarf an Papier für Toilettenzwecke – und der paranoiden Angst vor politischer Subversion, die selbst in diesem Kontext zum Ausdruck kommt.
Der erste Teil des Gedichts beschreibt nüchtern den Bedarf an Makulaturpapier. Die Ironie beginnt mit der Einschränkung, dass das Papier bestimmten Anforderungen genügen muss. Die vermeintlich harmlose Notwendigkeit wird durch die nachfolgenden Strophen ins Groteske gesteigert, indem die Obrigkeit eine potenzielle Gefährdung durch das Papier befürchtet. Das rotgefärbte Papier, das zur Makulatur werden soll, wird zum Symbol für politische Agitation und die Angst vor dem Umsturz. Der Hinweis auf das „rote“ Papier evoziert unweigerlich Assoziationen mit sozialistischen oder kommunistischen Ideologien, die zu Tucholskys Zeit von der Obrigkeit gefürchtet wurden.
Die zweite und dritte Strophe verdeutlichen die übertriebene Vorsicht und die Angst der Obrigkeit. Die „Rekruten“, die das „Traktat“ lesen könnten, stehen symbolisch für das einfache Volk, das durch subversive Ideen beeinflusst werden könnte. Der Bezug auf die Reveille, das morgendliche Wecken der Soldaten, unterstreicht die Gefahr, die von der vermeintlichen „roten“ Propaganda ausgehen könnte. Die Vorstellung, dass das Papier zu „Hochverrat“ führen könnte, ist offenkundig überzogen und verdeutlicht die übertriebene Angst vor politischer Unruhe.
Die abschließende Strophe ironisiert die Zensurpraxis, indem sie die Entfernung von Zeitungen wie der „Kreuzzeitung“ und der „Post“ im Papier, das für die Toiletten bestimmt ist, als Erfüllung des „eigentlichen Bestimmungszwecks“ darstellt. Hier wird der Zynismus des Autors besonders deutlich: Die eigentliche Funktion des Papiers – die Beseitigung von Informationen, die der Obrigkeit missfallen – wird mit der Notwendigkeit der Hygiene verknüpft, wodurch die Absurdität der Situation noch verstärkt wird. Tucholsky macht sich über die übertriebenen Kontrollmechanismen lustig und prangert gleichzeitig die Zensur an, die in der Weimarer Republik alltäglich war.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.