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Revolution

Von

»Es wird schon gehn!« ruft in den Lüften
Die Lerche, die am frühsten wach;
»Es wird schon gehn!« rollt in den Grüften
Ein unterirdisch Wetter nach.
»Es geht!« rauscht es in allen Bäumen,
Und lieblich wie Schalmeienton:
»Es geht schon!« hallt es in den Träumen
Der fieberkranken Nation.

Die Städte werden reg′ und munter,
»Es geht!« erschallt′s von Haus zu Haus;
Schon steigt der Ruhm in sie hinunter
Und wählt sich seine Kinder aus.
Die Morgensonne ruft: »Erwache,
O Volk, und eile auf den Markt!
Bring auf das Forum deine Sache!
Im Freien nur ein Volk erstarkt!

Trag all dein Lieben und dein Hassen
Und Lust und Leid im Sturmesschritt,
Dein schlagend Herz frei durch die Gassen,
Ja bring den ganzen Menschen mit!
Lass strömen all dein Sein und Denken
Und kehr′ dein Innerstes zu Tag!
Die Kindheit braucht dich nicht zu kränken,
Wenn du ein Kind von gutem Schlag!«

Die Morgensonne ruft: »Erwache!«
Klopft unterm Dach am Fenster an;
»Steh auf und schau′ zu unsrer Sache,
Sie geht, sie geht auf guter Bahn!
Ich lege Gold auf deine Zunge!
Ich lege Feuer in dein Wort!
So mach′ dich auf, mein lieber Junge,
Und schlag dich zu dem Volke dort!«

Er eilt, und es empfängt die Menge
Ihn hoffend auf dem weiten Plan;
Stolz trägt sein Kind des Volks Gedränge
Zur Rednerbühne hoch hinan.
Nun geht ein Leuchten und Gewittern
Aus seinem Mund durch jedes Herz;
Durch goldne Säle weht ein Zittern –
Es wird schon gehn, schon fliesst das Erz.

Wie eine Braut am Hochzeitstage,
So ist ein Volk, das sich erkennt;
Wie rosenrot vom heissen Schlage,
Vom Liebespuls ihr Antlitz brennt!
Zum ersten Mal wird sie es inne,
Wie schön sie sei, und fühlt es ganz:
So stehet in der Freiheitsminne
Ein Volk mit seinem Siegeskranz.

Doch wenn es nicht von Güte strahlet
Wie eine hochbeglückte Braut,
So ist sein Lohn ihm ausgezahlet
Und seine Freiheit fährt ins Kraut.
Ein böses Weib, ein gift′ger Drache
Und böses Volk sind all′ ein Fluch,
Und traurig spinnt die beste Sache
Sich in ihr graues Leichentuch!

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Revolution von Gottfried Keller

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Revolution“ von Gottfried Keller ist eine feurige Ode an das Streben nach Freiheit und die Notwendigkeit der Selbstverwirklichung eines Volkes. Es beginnt mit einem optimistischen Aufbruchsgefühl, das durch die wiederholte Phrase „Es wird schon gehn!“ und die Verwendung von Naturmetaphern wie der Lerche und dem unterirdischen Wetter vermittelt wird. Diese frühe Stimmung deutet auf einen bevorstehenden Wandel hin und erweckt den Eindruck einer Naturkraft, die die Revolution vorantreibt.

Das Gedicht beschreibt den Aufbruch des Volkes hin zur Freiheit. Die Sonne wird als Anreger und Mahner dargestellt, die das Volk auffordert, aufzustehen, seine Anliegen öffentlich zu machen und seine Emotionen, sowohl Liebe als auch Hass, frei zu äußern. Die Zeilen „Trag all dein Lieben und dein Hassen / Und Lust und Leid im Sturmesschritt“ fordern eine radikale Ehrlichkeit und Authentizität von jedem Einzelnen. Die Rednerbühne wird zum Ort der Verwirklichung, wo die Worte des Einzelnen in der Menge widerhallen und ein Gefühl der Einheit und des Stolzes entsteht.

Die zweite Hälfte des Gedichts, beginnend mit der Metapher der Braut am Hochzeitstag, wendet sich einem romantischen Bild der Freiheit zu. Ein Volk, das sich selbst erkennt, ist so strahlend und schön wie eine Braut, die sich ihrer Schönheit bewusst ist. Dieses Bild der erlangten Freiheit ist jedoch an eine Bedingung geknüpft: Die Freiheit kann nur Bestand haben, wenn sie auf Güte und Tugend basiert. Sollte das Volk diesen Weg verlassen und in Bosheit verfallen, droht der Untergang und der Verlust der errungenen Freiheit.

Die Sprache des Gedichts ist kraftvoll und bildhaft. Keller verwendet eine Mischung aus Naturmetaphern, wie die Lerche und die Sonne, und romantischen Bildern, wie die Braut. Der Rhythmus der Verse, besonders die Wiederholung von „Es geht schon!“, verstärkt den Eindruck von Bewegung und unaufhaltsamem Fortschritt. Die Verwendung von Ausrufen und direkten Ansprachen an das Volk verleiht dem Gedicht einen appellativen Charakter, der die Dringlichkeit des Themas unterstreicht.

Insgesamt ist „Revolution“ ein leidenschaftliches Bekenntnis zur Freiheit, das mit einer klaren Warnung vor den Gefahren einhergeht, die von einem Mangel an Tugend und Güte ausgehen. Keller beschreibt die Revolution nicht nur als einen politischen Wandel, sondern auch als einen Prozess der Selbstfindung und der moralischen Erneuerung des Volkes. Das Gedicht erinnert daran, dass Freiheit ein wertvolles Gut ist, das erhalten werden muss und nicht selbstverständlich ist.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.