Nächtliche Wanderung
Ich schreite einsam durch den Wald,
Die Nacht webt schwarz um düstre Tannen;
Vor meinem Geist steht Weh und Luft
Der langen Jahre, die verrannen.
Hat mehr des Leibes, mehr der Luft
Mich angefaßt im Weltgetriebe? –
Ob allem, was verweht, vergeht,
Stand ewig leuchtend deine Liebe!
Auch heute, da durch Nacht und Graun
Mein müder Fuß zum Ziele schreitet,
Fühl ich o tief, wie mich dein Geist
In dieser Einsamkeit begleitet.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Nächtliche Wanderung“ von Otto Ernst ist eine melancholische Reflexion über die Vergänglichkeit und die beständige Kraft der Liebe, eingebettet in eine Naturstimmung. Der Titel deutet bereits die zentrale Metapher an: eine nächtliche Wanderung durch einen Wald. Diese Wanderung wird zum Sinnbild für eine Reise durch das eigene Innere, durch die Erinnerungen und die Gefühle des lyrischen Ichs. Die einsame Wanderung unterstreicht das Gefühl der Isolation und des Nachdenkens.
Der erste Strophenabschnitt beschreibt die äußere Szenerie: eine dunkle Nacht, in der der Wanderer durch einen düsteren Wald schreitet. Die „düstre Tannen“ und die „schwarze“ Nacht erzeugen eine beklemmende Atmosphäre, die die Stimmung des lyrischen Ichs widerspiegelt. Die Worte „Weh und Luft der langen Jahre, die verrannen“ verweisen auf die Last der Vergangenheit, die auf dem Wanderer lastet. Es ist ein Rückblick auf vergangene Erfahrungen, auf Schmerz und möglicherweise auch auf verpasste Gelegenheiten.
Der zweite Teil des Gedichts lenkt den Blick auf die zentrale Thematik, die Liebe. Durch eine rhetorische Frage wird die Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit des körperlichen Daseins eingeleitet. Die Frage nach der Bedeutung des „Weltgetriebes“ und den Einflüssen des Lebens auf den Körper wird gestellt. Doch die Antwort ist eine klare Bekräftigung: Trotz aller Vergänglichkeit ist die Liebe der zentrale und ewige Bezugspunkt. Sie ist das Einzige, was nicht vergeht und dem lyrischen Ich Halt gibt.
Im letzten Abschnitt des Gedichts wird die Verbindung zwischen der Liebe und der aktuellen Erfahrung der Einsamkeit verdeutlicht. Trotz der Dunkelheit und der Müdigkeit des Wanderers spürt er die Gegenwart des „Geistes“ der geliebten Person. Diese Begleitung in der Einsamkeit ist ein Zeichen der tiefen Verbundenheit und der bleibenden Kraft der Liebe. Der Geist der Geliebten wird hier zu einer Quelle der Trostes und der Inspiration, die den Wanderer auf seinem Weg begleitet und ihm Kraft gibt, weiterzugehen. Das Gedicht zeugt so von der Fähigkeit der Liebe, über die Vergänglichkeit hinaus zu bestehen und Trost in der Einsamkeit zu spenden.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.