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Lieder des Römischen Carnevals – Zweites Lied

Von

Siehe doch die Stadt der Gräber
In bacchantischer Entzückung!
Rom verjüngt sich, Kindertage
Lebt es wieder, und ich folgte
Nicht dem Strome dieser Freude,
Die in allen Straßen wüthet,
Würfe keinen Feuerbrand
In die allgemeine Flamme?

Einsam stehn die alten Tempel
Um den Palatin, verlassen
Von dem mächtigen Geschlechte,
Das sie einst verehrt, verlassen
Von der Mitwelt selbst; dem Corso
Wälzt aus dem Vulkan der Freude
Sich die wilde Strömung zu,
Schwellend durch gedrängte Gassen.

Drum hinweg mit Ernst und Trauer,
Selbst den ehrbarsten Gedanken
Nennt man heut′ nur Grille; laßt mich
Frisch ins taumelnde Gewimmel,
Frisch ins brausende Gewoge;
Wie man sonst der Narren lachte,
Lacht man heut′ mit vollem Recht
Eines trockenen Verständ′gen!

Fürchte nur, dich zu verlieren;
Wie im Meer ein Regentropfen,
So vergehst du hier, und keiner
Fragt nach deinem Rang und Wissen,
Aller Bande der Gewohnheit
Ist der Mensch nun los, die Willkür
Wird Gesetz, und lüstet dich′s,
Kannst du auf dem Kopfe gehen.

Armuth gibt′s nicht mehr und Reichthum.
Eine Maske deckt sie beide,
Und geduldig nimmst du jeden,
Wie er scheint; Gesicht und Hülle,
Wort und die Geberde tauschen
Die Geschlechter selbst, das Alter
Lächelt dich in Locken an,
Und die Jugend geht an Krücken.

Was die Welt im Ernst getrieben,
Und was Geist und Hand beschäftigt,
Nur zum Scheine, nur zum Scherze
Trägt man Alles dir vor Augen,
Hier der Gärtner seine Blumen,
Der Gelehrte seine Bücher,
Seine Medicin der Arzt,
Und der Landmann seine Früchte.

Aus der Erde fernsten Strecken
Kommen bunte Völkertrachten,
Mahomskinder, Mohrenprinzen,
Aethiopische Gesichter,
Und um ganz dich zu verwirren,
Schickt das Reich der Fabel Gnomen;
Widerstehe, wenn du kannst,
Allerliebsten jungen Feen.

Von den fliehenden Gestalten
Glückt es keine dir zu fesseln;
Diese möchtest du verfolgen,
Jene lockt dich an. Vergebens!
Wesenlose Schattenbilder,
Schwinden sie hinweg, gehören
Nur sich selber an, und du
Bist allein zurückgeblieben.

Und des eignen Lebens denk′ ich,
Jener Zeit, da ihre Bilder
Mir die Welt, und seine Tiefen
Das Gemüth, da mir die Menschheit
Ihre Thaten aufgeschlossen,
Da vom Reiche der Lebend′gen
So viel herrliches sich stolz
Im Gemüthe mir gesammelt.

Da der Mensch und alle Dinge
So phantastisch noch im Dufte
Mir erschienen, da sie alle
Noch sich glichen, da die Masken
Mich getäuscht, da ich nach allen
Mit vermeßnem Wahn gegriffen,
Und von tausenden mir nichts
Als mein eignes Selbst geblieben.

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Gedicht: Lieder des Römischen Carnevals - Zweites Lied von Wilhelm Friedrich Waiblinger

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Lieder des Römischen Carnevals – Zweites Lied“ von Wilhelm Friedrich Waiblinger ist eine melancholische Betrachtung über die Erfahrung des Karnevals in Rom und die damit einhergehende Auflösung der eigenen Identität. Der Dichter beschreibt die berauschende Atmosphäre des Festes, die ihn jedoch gleichzeitig mit einer tiefen Sehnsucht und einem Gefühl des Verlustes konfrontiert. Die Verse sind durchzogen von einer Ambivalenz zwischen dem Wunsch nach Teilhabe an der ausgelassenen Freude und dem gleichzeitigen Bewusstsein der Flüchtigkeit und Leere, die diese Erfahrung mit sich bringt.

Das Gedicht beginnt mit dem Bild einer Stadt, die sich in bacchantischer Entzückung verjüngt, und dem Wunsch des Sprechers, sich der „Strömung der Freude“ anzuschließen. Der Karneval wird als ein Vulkan der Freude beschrieben, der alles mitreißt. Waiblinger nutzt lebhafte Bilder, um die Aufhebung aller Konventionen und Grenzen zu beschreiben: Armut und Reichtum verschmelzen, Geschlechter und Alter tauschen ihre Rollen, und die Welt scheint Kopf zu stehen. Diese Beschreibung erzeugt den Eindruck eines anarchischen Festes, in dem alles erlaubt ist und die eigene Individualität in der Masse aufgeht.

Doch trotz dieser scheinbaren Freiheit und dem Vergnügen, das der Karneval verspricht, dominiert eine tiefe Melancholie. Der Dichter erkennt die Vergänglichkeit der Erscheinungen und die Unmöglichkeit, etwas Dauerhaftes zu erlangen. Die flüchtigen Gestalten des Karnevals, die Masken und Verkleidungen, sind nur „wesenlose Schattenbilder“, die sich auflösen und den Dichter allein zurücklassen. Diese Erfahrung führt zu einer Reflexion über das eigene Leben und die Illusionen der Jugend, als die Welt noch voller Fantasie und Versprechen war.

Im letzten Teil des Gedichts kehrt die Erinnerung an die Vergangenheit zurück, als die Welt noch durch die Augen der jugendlichen Ideale gesehen wurde. Der Dichter erinnert sich an eine Zeit, in der er nach all diesen flüchtigen Erscheinungen mit „vermeßnem Wahn gegriffen“ hat, doch letztlich nur sein „eignes Selbst“ behielt. Das Gedicht schließt mit der Erkenntnis, dass die Suche nach Beständigkeit und Sinn in der Vergänglichkeit vergeblich ist. Der Karneval wird so zu einem Spiegelbild des Lebens, das die Illusionen und die Flüchtigkeit menschlicher Erfahrungen offenbart.

Waiblingers Gedicht ist somit eine tiefgründige Auseinandersetzung mit den Themen Vergänglichkeit, Illusion und der Suche nach Identität. Die lebendigen Bilder des Karnevals werden genutzt, um die menschliche Sehnsucht nach Freude und das gleichzeitige Bewusstsein der Endlichkeit und des Verlustes darzustellen. Die melancholische Grundstimmung, die das Gedicht durchzieht, macht es zu einem berührenden Ausdruck der menschlichen Erfahrung.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.