Lebendiges Andenken
Der Liebsten Band und Schleife rauben,
Halb mag sie zürnen, halb erlauben,
Euch ist es viel, ich will es glauben
Und gönn′ euch solchen Selbstbetrug:
Ein Schleier, Halstuch, Strumpfband, Ringe
Sind wahrlich keine kleinen Dinge;
Allein mir sind sie nicht genug.
Lebend′gen Teil von ihrem Leben,
Ihn hat nach leisem Widerstreben
Die Allerliebste mir gegeben,
Und jene Herrlichkeit wird nichts.
Wie lach′ ich all der Trödelware!
Sie schenkte mir die schönen Haare,
Den Schmuck des schönsten Angesichts.
Soll ich dich gleich, Geliebte, missen,
Wirst du mir doch nicht ganz entrissen:
Zu schau′n, zu tändeln und zu küssen
Bleibt die Reliquie von dir.
Gleich ist des Haars und mein Geschicke;
Sonst buhlten wir mit einem Glücke
Um sie, jetzt sind wir fern von ihr.
Fest waren wir an sie gehangen;
Wir streichelten die runden Wangen,
Uns lockt′ und zog ein süß Verlangen,
Wir gleiteten zur vollern Brust.
O Nebenbuhler, frei von Neide,
Du süß Geschenk, du schöne Beute,
Erinnre mich an Glück und Lust!
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Lebendiges Andenken“ von Johann Wolfgang von Goethe ist eine liebevolle und zugleich melancholische Reflexion über das Wesen der Erinnerung und des Abschieds, verknüpft mit der Wertschätzung des Vergangenen. Es ist in drei Strophen gegliedert, die sich von der materiellen Welt zu einer tieferen, emotionalen Ebene bewegen. Die ersten Verse ironisieren zunächst die üblichen Souvenirs der Liebe, wie Bänder und Ringe, und verweisen darauf, dass Goethe selbst mehr als nur diese kleinen Andenken begehrt.
Die zweite Strophe lenkt den Blick auf das „lebendige Teil“ der Geliebten, welches Goethe nun besitzt. Hierbei handelt es sich um ihre Haare, die als „Schmuck des schönsten Angesichts“ beschrieben werden. Goethe verspottet die „Trödelware“ der früheren Verszeilen und betont, dass das Haar, als physischer Teil der Geliebten, eine tiefere Bedeutung besitzt und ein greifbares Andenken an die gemeinsame Zeit darstellt. Diese Strophe deutet auf eine tiefere Sehnsucht nach Nähe und Erinnerung hin, die über die oberflächlichen Symbole hinausgeht.
Die abschließende dritte Strophe enthüllt die doppelte Natur des Abschieds. Das Haar wird als „Reliquie“ betrachtet, die das Andenken an die Geliebte bewahrt. Die Zeilen deuten auf eine Trennung, möglicherweise sogar den Tod der Geliebten, hin. Goethe und das Haar „buhlten“ einst um die Gunst der Geliebten, doch nun sind beide durch den Verlust vereint. Dies unterstreicht die Vergänglichkeit des Lebens und die Macht der Erinnerung. Das Gedicht schließt mit einer Ode an das Haar, als Erinnerung an Glück und Freude.
Die Sprache Goethes ist klassisch und präzise, mit klaren Bildern und einer emotionalen Tiefe, die durch die Verwendung von Adjektiven wie „schön“ und „süß“ verstärkt wird. Die Struktur des Gedichts folgt einem logischen Aufbau, der von oberflächlichen Andenken zu den intensiven, bleibenden Erinnerungen übergeht. Durch die Metapher des Haares als „lebendiges Andenken“ gelingt es Goethe, eine tiefgründige Auseinandersetzung mit dem Verlust und der Wertschätzung der Vergangenheit zu schaffen.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.