Kritik
Da oben spielen sie ein schweres Drama
mit Weltanschauung, Kampf von Herz und Pflicht:
Susannen attackiert ein ganz infama
Patron und läßt sie nicht.
Ich sitze im Parkett und zück den Faber
und schreibe auf, ob alles richtig sei;
Exposition, geschürzter Knoten – aber
ich denk mir nichts dabei.
Mein Herz weilt fromm bei jenem lieben Kinde,
das lächelnd eine Kindermagd agiert:
ich streichle ihr im Geiste sehr gelinde,
was sie so lieblich ziert,
Nun sieh mal einer diese süßen Pfoten,
dies Seidenhaar mit einem Häubchen drauf –
es gibt da sicher manch geschürzten Knoten:
ich löst ihn gerne auf.
Wer sagte da, dass ich nicht sachlich bliebe?
(Nu sieh mal einer dieses schlanke Bein!)
Begeisterung, Freude am Beruf und ›Liebe‹ –:
So soll es sein!
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Kritik“ von Kurt Tucholsky ist eine satirische Auseinandersetzung mit der Rolle des Kritikers und der Ablenkung von der eigentlichen Aufgabe durch persönliche Vorlieben und sexuelle Anziehung. Der Autor präsentiert uns das Bild eines Theaterbesuchers, der vorgibt, das dramatische Geschehen auf der Bühne aufmerksam zu beobachten und zu analysieren, in Wirklichkeit aber von der Darstellung des „lieben Kinde“ – vermutlich einer jungen Schauspielerin – und deren Reizen abgelenkt ist.
Tucholsky nutzt die ironische Gegenüberstellung von Anspruch und Wirklichkeit, um die Scheinheiligkeit der Kritik aufzudecken. Der Kritiker führt seinen Stift und notiert scheinbar die formalen Elemente des Dramas, wie Exposition und Konflikte, doch sein eigentliches Interesse gilt den körperlichen Attributen der Schauspielerin. Er bewundert ihr „Seidenhaar“, ihre „süßen Pfoten“ und ihr „schlankes Bein“, während er vorgibt, die „geschürzten Knoten“ der Handlung zu analysieren. Diese Doppeldeutigkeit, kombiniert mit der Verwendung von Substantiven und Adjektiven, die sowohl sachliche Beobachtungen als auch sinnliche Reize beschreiben, unterstreicht die Diskrepanz zwischen dem angeblichen Anspruch der Kritik und der tatsächlichen Motivation des Kritikers.
Die letzten Zeilen des Gedichts sind von besonderer Bedeutung. Der Kritiker behauptet, „sachlich“ zu bleiben, was in krassem Gegensatz zu seinen vorherigen Ausführungen steht. Er rechtfertigt seine Ablenkung durch „Begeisterung, Freude am Beruf und ‚Liebe‘ –: So soll es sein!“, wodurch er seine persönliche Anziehung als legitim und sogar als notwendigen Bestandteil seiner Arbeit darstellt. Durch diese Aussage entlarvt Tucholsky die Art und Weise, wie persönliche Vorlieben und sexuelle Begierden die Urteilsfähigkeit beeinflussen und die Objektivität der Kritik untergraben können.
Die sprachliche Gestaltung des Gedichts ist ebenfalls bemerkenswert. Tucholsky verwendet eine einfache, humorvolle Sprache mit Reimen, die das Gedicht zugänglich und leicht verständlich machen. Der ironische Ton und die pointierten Formulierungen, wie „ich löst ihn gerne auf“ (gemeint sind die „geschürzten Knoten“ der Handlung, aber auch eine sexuelle Anspielung) tragen zur satirischen Wirkung bei. Das Gedicht ist somit eine kritische Reflexion über die Rolle der Kritik und die menschliche Tendenz, sich von persönlichen Neigungen und Reizen ablenken zu lassen.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.