Kino
Wird Gustav, der Kommis, entlassen?
Seit einer halben Stunde weiß ichs nicht …
Die greise Mutter löffelt, was sie kriegt,
aus dicken Untertassen.
Nun kommt der Chef! Mit schultern Bartkoteletten
und einem Mimenmund und uhrgeschmücktem Bauch …
Dumpf buchstabiert das Publikum: »Nee – ü-ber – Ihnen – a-ber –
auch …«
Da gibt es nichts zu retten.
Hier stehen Mutter, Tochter, Hund und Chef und seine Leiche!
Nun aber steigt auf einer Geige jählings himmelan
ein Lauf, der seinerseits im Baß begann …
Die nächste Nummer: »Jacob auf der Eiche.«
Humor! Man lacht! Wes Auge blieb da trocken?!
Die Hose – denken Sie – zer – hi – zerriß!
Vergessen ist die Tränenkümmemis
und jene Totenglocken …
Doch jetzt erblick ich einen Fürsten oben,
der weiht mit seinem Helmbusch etwas ein –
ja, sollt dies wirklich Herzog Albrecht sein?
Und kurz und gut: Hier fühl ich mich erhoben!
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Kino“ von Kurt Tucholsky beschreibt in vier Strophen ein fragmentarisches Kinoerlebnis, das die Absurdität und Flüchtigkeit des Gezeigten mit ironischer Distanz festhält. Die Szene ist eine Mischung aus banalen Alltagselementen und theatralischen Übertreibungen, wodurch der Dichter die Rezeption und Wirkung von Film in der frühen Kinozeit persifliert. Der Leser wird in die chaotische und oft sinnlose Abfolge von Bildern, Emotionen und Klischees hineingezogen, die das Kinoerlebnis ausmachen.
Die erste Strophe stellt eine Szene aus dem Alltag dar, die sich in den Film einmischt: die mögliche Entlassung des Kommis Gustav und das Essen der alten Mutter. Die zweite Strophe wechselt in die Kinowelt mit dem Auftritt des Chefs und dem ungelenken Dialog. Tucholsky spielt mit der Erwartung des Publikums und zeigt, wie Erwartungen durch platte Dramatik erfüllt werden. Die dritte Strophe nimmt mit der Geige und dem Bass die Musik auf, um die darauffolgende, komische Nummer einzuleiten. Die Ironie wird durch das Lachen des Publikums verstärkt. Die letzte Strophe schließlich präsentiert eine überraschende Wendung. Ein Fürst erscheint, um „etwas einzuweihen“ und der Dichter fühlt sich „erhoben“. Das Finale wird vom Autor kurz gehalten, sodass es mit dem Rest der im Gedicht beschriebenen Szenerie verschmilzt.
Der Humor des Gedichts beruht auf dem Kontrast zwischen den banalen Alltagsszenen und den übertriebenen theatralischen Elementen. Die Sprache ist bewusst einfach gehalten, fast prosaisch, um die Banalität des Gezeigten hervorzuheben. Die Verwendung von unvollständigen Sätzen, die abgehackte Wiedergabe von Dialogen und die ironischen Kommentare des lyrischen Ichs verstärken diesen Effekt. Tucholsky entlarvt die Klischees, die in den Filmen der Zeit verwendet wurden, und zeigt, wie diese das Publikum beeinflussen. Die scheinbar willkürliche Abfolge der Szenen spiegelt die chaotische Natur des Kinoerlebnisses wider.
Die Metapher des Kinobesuchs dient hier nicht nur als Beschreibung eines Vergnügens, sondern auch als eine Kritik an der Ablenkung durch oberflächliche Unterhaltung. Tucholsky hinterfragt die Fähigkeit des Publikums, sich von der Wirklichkeit in eine Welt der Illusionen entführen zu lassen. Die „Tränenkümmermis“ und die „Totenglocken“ symbolisieren die Vergänglichkeit und die Sinnlosigkeit der Emotionen, die durch die Filmvorführungen ausgelöst werden. Das Gedicht ist eine Kritik am Kino und an der Rolle der Unterhaltung in der modernen Gesellschaft.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.