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Im Zeichen des Todes

Von

Noch war die Jugend mein, die schöne, ganze,
Ein Morgen nur, ein Gestern gab es nicht;
Da sah der Tod im hellsten Sonnenglanze,
Mein Haar berührend, mir ins Angesicht.

Die Welt erlosch, der Himmel brannte trübe;
Ich sprang empor entsetzt und ungestüm.
Doch er verschwand; die Ewigkeit der Liebe
Lag vor mir noch und trennte mich von ihm.

Und heute nun – im sonnigen Gemache
Zur Rechten und zur Linken schlief mein Kind;
Des zarten Atems lauschend, hielt ich Wache,
Und an den Fenstern ging der Sommerwind.

Da sanken Nebelschleier dicht und dichter
Auf mich herab; kaum schienen noch hervor
Der Kinder schlummerselige Gesichter,
Und nicht mehr drang ihr Atem an mein Ohr.

Ich wollte rufen; doch die Stimme keuchte,
Bis hell die Angst aus meinem Herzen schrie.
Vergebens doch; kein Schrei der Angst erreichte,
Kein Laut der Liebe mehr erreichte sie.

In grauer Finsternis stand ich verlassen,
Bewegungslos und schauernden Gebeins;
Ich fühlte kalt mein schlagend Herz erfassen,
Und ein entsetzlich Auge sank in meins.

Ich floh nicht mehr; ich fesselte das Grauen
Und faßte mühsam meines Auges Kraft;
Dann überkam vorahnend mich Vertrauen
Zu dem, der meine Sinne hielt in Haft.

Und als ich fest den Blick zurückgegeben,
Lag plötzlich tief zu Füßen mir die Welt;
Ich sah mich hoch und frei ob allem Leben
An deiner Hand, furchtbarer Fürst, gestellt.

Den Dampf der Erde sah empor ich streben
Und ballen sich zu Mensch- und Tiergestalt;
Sah es sich schütteln, tasten, sah es leben
Und taumeln dann und schwinden alsobald.

Im fahlen Schein im Abgrund sah ich′s liegen
Und sah sich′s regen in der Städte Rauch;
Ich sah es wimmeln, hasten, sich bekriegen
Und sah mich selbst bei den Gestalten auch.

Und niederschauend von des Todes Warte,
Kam mir der Drang, das Leben zu bestehn,
Die Lust, dem Feind, der unten meiner harrte,
Mit vollem Aug ins Angesicht zu sehn.

Und kühlen Hauches durch die Adern rinnen
Fühlt ich die Kraft, entgegen Lust und Schmerz
Vom Leben fest mich selber zu gewinnen,
Wenn andres nicht, so doch ein ganzes Herz. –

Da fühlt ich mich im Sonnenlicht erwachen;
Es dämmerte, verschwebte und zerrann;
In meine Ohren klang der Kinder Lachen,
Und frische, blaue Augen sahn mich an.

O schöne Welt! So sei in ernstem Zeichen
Begonnen denn der neue Lebenstag!
Es wird die Stirn nicht allzusehr erbleichen,
Auf der, o Tod, dein dunkles Auge lag.

Ich fühle tief, du gönnetest nicht allen
Dein Angesicht; sie schauen dich ja nur,
Wenn sie dir taumelnd in die Arme fallen,
Ihr Los erfüllend gleich der Kreatur.

Mich aber laß unirren Augs erblicken,
Wie sie, von keiner Ahnung angeweht,
Brutalen Sinns ihr nichtig Werk beschicken,
Unkundig deiner stillen Majestät.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Im Zeichen des Todes von Theodor Storm

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Im Zeichen des Todes“ von Theodor Storm ist eine tiefgründige Auseinandersetzung mit der Konfrontation des lyrischen Ichs mit dem Tod und der daraus resultierenden Wiedergeburt in ein neues Lebensverständnis. Das Gedicht beginnt mit der Erinnerung an die Jugend, in der der Tod erstmals als Bedrohung wahrgenommen wurde. Diese erste Begegnung erzeugt Angst und Entsetzen, doch der Tod verschwindet, und das lyrische Ich findet sich in einem Zustand der „Ewigkeit der Liebe“ wieder.

Der zweite Teil des Gedichts beschreibt eine erneute Begegnung mit dem Tod, diesmal unter erschreckenderen Umständen. Das lyrische Ich wacht über seine schlafenden Kinder, als eine dichte Nebelwand herabsinkt, die die Kinder zu ersticken droht. Die Hilflosigkeit und Panik des Ichs, das seine Kinder nicht erreichen kann, gipfelt in einer Vision, in der es dem Tod gegenübersteht. Hier findet eine entscheidende Veränderung statt: Statt zu fliehen, nimmt das Ich die Konfrontation an und blickt dem Tod ins Auge. Durch diese Akzeptanz erfährt es eine tiefgreifende Transformation.

In der Vision des Todes wird dem Ich eine weitreichende Perspektive eröffnet. Es sieht das irdische Leben, das „Dampf der Erde“, als ein vergängliches Schauspiel. Es sieht die Welt, das Leben, in all seiner Unbeständigkeit, seinen Kämpfen und seinem Vergehen. Aus dieser Warte erwächst ein neuer Drang zum Leben, eine Entschlossenheit, dem Tod mit Mut und einem unerschütterlichen Herzen zu begegnen. Diese Haltung des lyrischen Ichs wird durch die Zeile „Die Lust, dem Feind, der unten meiner harrte, / Mit vollem Aug ins Angesicht zu sehn“ deutlich.

Die abschließenden Strophen beschreiben die Rückkehr des Ichs in die Realität. Es erwacht im Sonnenlicht, hört das Lachen seiner Kinder und findet sich in einer „schönen Welt“ wieder. Die Erfahrung des Todes hat eine bleibende Wirkung hinterlassen: Das lyrische Ich ist jetzt in der Lage, das Leben mit neuer Klarheit und Tapferkeit zu betrachten. Es erkennt, dass der Tod nicht für alle gedacht ist, dass er einigen vorbehalten ist, und dass es die Aufgabe des Ichs ist, das Leben mit offenen Augen und einem festen Herzen zu leben.

Das Gedicht ist eine Hymne auf das Leben, das durch die Auseinandersetzung mit dem Tod an Tiefe und Bedeutung gewinnt. Durch die Akzeptanz des Todes und die anschließende Rückkehr ins Leben, symbolisiert das Gedicht die Fähigkeit des Menschen, über die Angst vor dem Tod hinauszuwachsen und die Schönheit und den Wert des Lebens zu erkennen und zu schätzen. Das lyrische Ich ist nicht länger ein passives Opfer des Schicksals, sondern eine starke Persönlichkeit, die ihren eigenen Weg geht, auch im Angesicht des Todes.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.