Glück und Traum
Du hast uns oft im Traum gesehen
Zusammen zum Altare gehen,
Und dich als Frau und mich als Mann.
Oft nahm ich wachend deinem Munde,
In einer unbewachten Stunde,
Soviel man Küsse nehmen kann.
Das reinste Glück, das wir empfunden,
Die Wollust mancher reichen Stunden
Floh wie die Zeit mit dem Genuß.
Was hilft es mir, daß ich genieße?
Wie Träume flieh′n die wärmsten Küsse,
Und alle Freude wie ein Kuß.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Glück und Traum“ von Johann Wolfgang von Goethe thematisiert die Flüchtigkeit von Glück und die Diskrepanz zwischen Traum und Wirklichkeit. Das lyrische Ich blickt auf vergangene, intensive Momente der Liebe zurück, die durch Träume und erlebte Zärtlichkeiten charakterisiert sind. Bereits im ersten Vers etabliert Goethe eine Verbindung von Traum und Realität, indem er die häufigen Träume vom gemeinsamen Gang zum Altar erwähnt. Diese Träume symbolisieren eine tiefe Sehnsucht nach Verbundenheit und Beständigkeit, die jedoch der Vergänglichkeit unterliegt.
Der zweite Teil des Gedichts konzentriert sich auf die erlebte körperliche Nähe und das daraus resultierende Glück. Die „Wollust mancher reichen Stunden“ wird als besonders intensiv geschildert, doch gleichzeitig wird die Vergänglichkeit dieses Glücks betont. Die Zeile „Floh wie die Zeit mit dem Genuß“ verdeutlicht, dass das Glück ebenso schnell vergeht wie die Zeit selbst. Die Küsse, die im Wachzustand genossen wurden, und die Erinnerungen daran sind flüchtig wie ein Traum. Goethe thematisiert hier die Paradoxie des Glücks: Es ist in der Gegenwart intensiv erlebbar, entzieht sich aber der dauerhaften Festlegung.
Der zentrale Moment des Gedichts ist die Erkenntnis der Vergänglichkeit. Das lyrische Ich fragt sich: „Was hilft es mir, daß ich genieße?“. Diese Frage drückt die tiefe Melancholie und den Schmerz über das kurzlebige Glück aus. Die Metapher der flüchtenden Küsse und der Freude, die wie ein Kuss vergeht, verstärkt diese Erkenntnis. Hier wird deutlich, dass Goethe nicht nur die Freude, sondern auch das daraus resultierende Gefühl des Verlustes thematisiert. Das Gedicht wird so zu einer Reflexion über die menschliche Erfahrung von Liebe, Glück und deren unvermeidlicher Vergänglichkeit.
Goethe verwendet eine schlichte, aber eindringliche Sprache, die durch die Verwendung von Reimen und einfachen Worten eine große Wirkung erzielt. Die Direktheit der Aussagen und die Offenheit des lyrischen Ichs, seine Gefühle auszudrücken, erzeugen eine große Nähe zum Leser. Das Gedicht verdeutlicht somit Goethes Fähigkeit, universelle menschliche Erfahrungen in poetischer Form zu erfassen und zu reflektieren. Es ist ein stilles, aber tiefgründiges Bekenntnis zur Natur des Glücks und der Liebe im Angesicht der Zeit.
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Lizenz und Verwendung
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