Einer Toten
1
Du glaubtest nicht an frohe Tage mehr,
Verjährtes Leid ließ nimmer dich genesen;
Die Mutterfreude war für dich zu schwer,
Das Leben war dir gar zu hart gewesen. –
Er saß bei dir in letzter Liebespflicht;
Noch eine Nacht, noch eine war gegeben!
Auch die verrann; dann kam das Morgenlicht.
»Mein guter Mann, wie gerne wollt ich leben!«
Er hörte still die sanften Worte an,
Wie sie sein Ohr in bangen Pausen trafen:
»Sorg für das Kind – ich sterbe, süßer Mann.«
Dann halb verständlich noch: »Nun will ich schlafen.«
Und dann nichts mehr; – du wurdest nimmer wach,
Dein Auge brach, die Welt ward immer trüber;
Der Atem Gottes wehte durchs Gemach,
Dein Kind schrie auf, und dann warst du hinüber.
2
Das aber kann ich nicht ertragen,
Daß so wie sonst die Sonne lacht;
Daß wie in deinen Lebenstagen
Die Uhren gehn, die Glocken schlagen,
Einförmig wechseln Tag und Nacht;
Daß, wenn des Tages Lichter schwanden,
Wie sonst der Abend uns vereint;
Und daß, wo sonst dein Stuhl gestanden,
Schon andre ihre Plätze fanden,
Und nichts dich zu vermissen scheint;
Indessen von den Gitterstäben
Die Mondesstreifen schmal und karg
In deine Gruft hinunterweben
Und mit gespenstig trübem Leben
Hinwandeln über deinen Sarg.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Einer Toten“ von Theodor Storm ist eine bewegende Auseinandersetzung mit dem Verlust und der Trauer um eine verstorbene Ehefrau und Mutter. Das erste Kapitel schildert den Moment des Todes der Frau, beginnend mit ihrem tiefen Leid und ihrer Hoffnungslosigkeit im Leben. Storm beschreibt ihre letzten Worte, die von Sorge um ihr Kind und dem Wunsch nach Leben geprägt sind, gefolgt von ihrem friedlichen Einschlafen und dem endgültigen Tod. Die eindringliche Beschreibung des Sterbeprozesses, begleitet vom Aufschrei des Kindes, verdeutlicht die Tragik des Verlustes und die Zerstörung der familiären Einheit.
Der zweite Teil des Gedichts, durch einen Absatz markiert, fokussiert sich auf die Reaktion des Hinterbliebenen und die Unfähigkeit, den Verlust zu akzeptieren. Er kann die Welt, die sich scheinbar unberührt weiterdreht, nicht ertragen. Die Sonne lacht, die Uhren schlagen, der Tag und die Nacht wechseln sich ab, so wie es auch zu Lebzeiten der Frau der Fall war. Dies verstärkt das Gefühl der Leere und des Fehlens der Verstorbenen. Die Welt scheint sich nicht zu kümmern, während der Mann in tiefster Trauer verharrt.
Die Natur dient in diesem Gedicht als Kontrast zur inneren Gefühlswelt des Trauernden. Während die Welt ihren gewohnten Gang geht, fühlt er sich von dem Verlust völlig überwältigt. Besonders eindrucksvoll ist das Bild der Mondesstreifen, die durch die Gitterstäbe auf den Sarg der Toten fallen. Diese Szene symbolisiert die Einsamkeit und das Verweilen der Trauer in der Dunkelheit und dem Verborgenen der Gruft, während das Leben an der Oberfläche unaufhörlich weitergeht. Die karge, gespenstische Atmosphäre verstärkt das Gefühl der Unendlichkeit der Trauer.
Storm gelingt es, durch einfache, aber eindringliche Worte eine tiefe Emotionale Intensität zu erzeugen. Die klare Sprache und die präzisen Bilder ermöglichen es dem Leser, die Trauer des Mannes nachzuempfinden und die Absurdität der Welt, die sich unaufhörlich weiterdreht, zu begreifen. Das Gedicht ist nicht nur eine Klage über den Tod, sondern auch eine Reflexion über die Vergänglichkeit des Lebens und die Unfähigkeit des Einzelnen, sich von dem Verlust eines geliebten Menschen zu lösen. Es ist ein Meisterwerk der deutschen Lyrik, das die menschliche Erfahrung von Trauer und Verlust in all ihrer Tiefe widerspiegelt.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.