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Ein Sterbender

Von

Am Fenster sitzt er, alt, gebrochnen Leibes,
Und trommelt müßig an die feuchten Scheiben;
Grau ist der Wintertag und grau sein Haar.
Mitunter auch besieht er aufmerksam
Der Adern Hüpfen auf der welken Hand.
Es geht zu Ende; ratlos irrt sein Aug
Von Tisch zu Tisch, drauf Schriftwerk aller Art,
Sein harrend, hoch und höher sich getürmt.
Vergebens! Was er täglich sonst bezwang,
Es ward ein Berg; er kommt nicht mehr hinüber.
Und dennoch, wenn auch trübe, lächelt er
Und sucht wie sonst noch mit sich selbst zu scherzen;
Ein Aktenstoß, in tücht′gen Stein gehauen,
Es dünket ihn kein übel Epitaph.
Doch streng aufs neue schließet sich sein Mund;
Er kehrt sich ab, und wieder mit den grellen
Pupillen starrt er in die öde Luft
Und trommelt weiter an die Fensterscheiben.

Da wird es plötzlich hell; ein bleicher Strahl
Der Wintersonne leuchtet ins Gemach
Und auf ein Bild genüber an der Wand.
Und aus dem Rahmen tritt ein Mädchenkopf,
Darauf wie Frühtau noch die Jugend liegt;
Aus großen, hold erstaunten Augen sprüht
Verheißung aller Erdenseligkeit.
Er kennt das Wort auf diesen roten Lippen,
Er nur allein. Erinnrung faßt ihn an;
Fata Morgana steigen auf betörend;
Lau wird die Luft – wie hold die Düfte wehen!
Mit Rosen ist der Garten überschüttet,
Auf allen Büschen liegt der Sonnenschein.
Die Bienen summen; und ein Mädchenlachen
Fliegt süß und silbern durch den Sommertag.
Sein Ohr ist trunken. »Oh, nur einmal noch!«
Er lauscht umsonst, und seufzend sinkt sein Haupt.
»Du starbst. – Wo bist du? – Gibt es eine Stelle
Noch irgendwo im Weltraum, wo du bist? –
Denn daß du mein gewesen, daß das Weib
Dem Manne gab der unbekannte Gott –
Ach dieser unergründlich süße Trunk,
Und süßer stets, je länger du ihn trinkst,
Er läßt mich zweifeln an Unsterblichkeit;
Denn alle Bitternis und Not des Lebens
Vergilt er tausendfach; und drüberhin
Zu hoffen, zu verlangen weiß ich nichts!«
In leere Luft ausstreckt er seine Arme:
»Hier diese Räume, wo du einst gelebt,
Erfüllt ein Schimmer deiner Schönheit noch;
Nur mir erkennbar? wenn auch meine Augen
Geschlossen sind, von keinem dann gesehn.«

Vor ihm mit dunklem Weine steht ein Glas,
Und zitternd langet seine Hand danach;
Er schlürft ihn langsam, aber auch der Wein
Erfreut nicht mehr sein Herz. Er stützt das Haupt.
»Einschlafen, fühl ich, will das Ding, die Seele,
Und näher kommt die rätselhafte Nacht!« – –
Ihm unbewußt entfliehen die Gedanken
Und jagen sich im unermeßnen Raum. –
Da steigt Gesang, als wollt′s ihn aufwärts tragen;
Von drüben aus der Kirche schwillt der Chor.
Und mit dem innern Auge sieht er sie,
So Mann als Weib, am Stamm des Kreuzes liegen.
Sie blicken in die bodenlose Nacht;
Doch ihre Augen leuchten feucht verklärt,
Als sähen sie im Urquell dort des Lichts
Das Leben jung und rosig auferstehn.

»Sie träumen«, spricht er – leise spricht er es –
»Und diese bunten Bilder sind ihr Glück.
Ich aber weiß es, daß die Todesangst
Sie im Gehirn der Menschen ausgebrütet.«
Abwehrend streckt er seine Hände aus:
»Was ich gefehlt, des einen bin ich frei;
Gefangen gab ich niemals die Vernunft,
Auch um die lockendste Verheißung nicht;
Was übrig ist – ich harre in Geduld.«
Mit klaren Augen schaut der Greis umher;
Und während tiefer schon die Schatten fallen,
Erhebt er sich und schleicht von Stuhl zu Stuhl,
Und setzt sich noch einmal dort an den Tisch,
Wo ihm so manche Nacht die Lampe schien.
Noch einmal schreibt er; doch die Feder sträubt sich;
Sie, die bisher dem Leben nur gedient,
Sie will nicht gehen in den Dienst des Todes;
Er aber zwingt sie, denn sein Wille soll
So weit noch reichen, als er es vermag.

Die Wanduhr mißt mit hartem Pendelschlag,
Als dränge sie, die fliehenden Sekunden;
Sein Auge dunkelt; ungesehen naht,
Was ihm die Feder aus den Fingern nimmt.
Doch schreibt er mühsam noch in großen Zügen,
Und Dämmrung fällt wie Asche auf die Schrift:
»Auch bleib der Priester meinem Grabe fern;
Zwar sind es Worte, die der Wind verweht,
Doch will es sich nicht schicken, daß Protest
Gepredigt werde dem, was ich gewesen,
Indes ich ruh im Bann des ew′gen Schweigens.«

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Gedicht: Ein Sterbender von Theodor Storm

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Ein Sterbender“ von Theodor Storm zeichnet das Porträt eines alten Mannes, der sich im Angesicht des Todes befindet und sein Leben reflektiert. Der Anfang des Gedichts ist geprägt von einer düsteren Atmosphäre, die durch die Beschreibung des Protagonisten in einem trüben Wintertag, seine gebrechliche körperliche Verfassung und die Umgebung, die von Schriftstücken und dem Vergehen der Zeit dominiert ist, erzeugt wird. Der Mann wirkt isoliert und mit sich selbst beschäftigt, während er sich seinem nahenden Ende bewusst wird. Die detailreiche Beobachtung der Umgebung und der eigenen körperlichen Veränderungen unterstreicht die zunehmende Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit und der Sinnhaftigkeit des Lebens.

Im zweiten Teil des Gedichts wird die eintönige Realität durch eine Vision aufgebrochen. Ein Sonnenstrahl fällt auf ein Bild an der Wand, und die Erscheinung einer jungen Frau, die mit Jugend und Verheißung verbunden ist, löst in dem Sterbenden eine Flut von Erinnerungen aus. Diese Erinnerungen sind von romantischer Verklärung geprägt, wobei die Schönheit und die Sinnlichkeit der vergangenen Liebe in den Vordergrund treten. Der Mann wird von nostalgischen Gefühlen überwältigt, die mit dem Wunsch nach Wiedervereinigung und der Verzweiflung über den Verlust einhergehen. Die Wiederholung des Refrains „Oh, nur einmal noch!“ verdeutlicht die Sehnsucht nach der Vergangenheit und dem, was er verloren hat.

Die dritte Strophe zeigt den Mann in einem Zustand der Ambivalenz. Er nimmt Wein zu sich, der ihm jedoch keine Freude mehr bereitet. Gleichzeitig bemerkt er, wie sich seine Seele in Richtung der „rätselhaften Nacht“ verabschiedet. Er betrachtet eine Szene von Gläubigen, die am Fuße des Kreuzes in einer Art Hoffnung versunken sind. Allerdings distanziert er sich von diesem Glauben, indem er die Bilder als „Glück“ bezeichnet, das aus der Angst des Todes resultiert. Die bewusste Ablehnung von Hoffnung und die Betonung der Vernunft zeigen die intellektuelle Unabhängigkeit des Sterbenden.

Die letzten Verse sind geprägt von der Annahme des Todes und der Festlegung seines Vermächtnisses. Der Mann erhebt sich und setzt sich noch einmal an seinen Tisch, um einen letzten Willen zu formulieren. Er schreibt eine Botschaft, in der er bittet, dass keine Priester an seinem Grab erscheinen sollen, da er seine Vernunft behalten und dem Tod nicht widersprechen will. Diese Geste ist ein Ausdruck seiner Unabhängigkeit und seiner Ablehnung jeglicher religiöser Trostangebote. Das Gedicht endet mit einer ruhigen, fast distanzierten Beschreibung seines Todes, was die Akzeptanz der eigenen Endlichkeit unterstreicht. Die letzten Worte sind ein Bekenntnis zur Selbstbestimmung bis zum Schluss.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.