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Ein Kreuzzeichen in der neuesten Facon

Von

Ich Kreuz, mein eignes Kreuz euch klage,
Wie man mir mitspielt heutzutage.
In allen bunten Modebuden,
Bei Christen, Heiden oder Juden,
Hat man mich feil von Gold und Eisen,
Und, um mir Ehre zu erweisen,
Trägt mich die Dirn auf nackten Brüsten
Bei eitlem Stolz und wilden Lüsten.
Auch auf dem Putztisch muß ich stehen,
Und schminken, kleben, pflastern sehen,
Und abends schmück ich dann die Feste,
Zur Unterhaltung frommer Gäste.
In euren neuen Almanachen
Muß ich das Titelkupfer machen,
Und darf im Innern auch nicht fehlen,
Muß im Sonett mich lassen quälen,
Und zwischen Schilling, Laun und Clauren
Ein liebes langes Jahr ausdauern.
Selbst in den Zuckerbäckerladen
Werd ich geprägt auf Tort′ und Fladen,
Und eingewickelt in Papieren
Muß ich Bonbons als Bildchen zieren;
Fürwahr, ich wäre schon verkommen,
Hätt sich nicht meiner angenommen
Die Politik auf ihrem Throne,
Und aus des dummen Pöbels Hohne
Mich glorreich zu sich aufgehoben.
Seitdem schweb ich zwar wieder oben,
Und werd in Akten und Traktaten
Geehrt von frommen Diplomaten;
Allein im schönen Morgenlande
Läßt mich, zu aller Christen Schande,
Trotz allem Jammern, allem Beten,
Frau Politik mit Füßen treten.
Ich seufz und muß darein mich finden:
Wer kann die Politik ergründen?

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Ein Kreuzzeichen in der neuesten Facon von Wilhelm Müller

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Ein Kreuzzeichen in der neuesten Facon“ von Wilhelm Müller ist eine Satire, die sich kritisch mit der zunehmenden Kommerzialisierung und Missbrauch des christlichen Kreuzes in der Gesellschaft seiner Zeit auseinandersetzt. Das Gedicht ist aus der Perspektive des Kreuzes selbst verfasst, was ihm eine besonders eindringliche und ironische Note verleiht. Durch diese Personifizierung gewinnt die Kritik an Schärfe und verdeutlicht die Perversion des ursprünglichen religiösen Symbols.

Die Verse beschreiben, wie das Kreuz in verschiedenen, oft profanen Kontexten verwendet wird. Es wird als Schmuck von Dirnen getragen, dient als Verzierung auf Torten und Bonbons und wird in Modealmanachen und Sonetten missbraucht. Die Allgegenwart des Kreuzes in der Mode, der Unterhaltung und sogar der Politik entlarvt die Oberflächlichkeit und den Verlust seiner spirituellen Bedeutung. Die ironische Beschreibung der „frommen Gäste“, die sich am Kreuz erfreuen, deutet auf eine Heuchelei hin, die Müller anprangert. Die Aussage ist, dass das Kreuz zu einem leeren Symbol geworden ist, das seinen eigentlichen Wert verloren hat.

Ein besonderer Wendepunkt im Gedicht ist die Erwähnung der Politik, die das Kreuz scheinbar vor dem vollständigen Verfall rettet, indem sie es „auf ihrem Throne“ glorreich erhebt. Dies ist jedoch ein zynischer Akt, da das Kreuz in den Händen der Diplomatie und in Akten und Traktaten geehrt wird, aber gleichzeitig von der Politik missbraucht und im „schönen Morgenlande“ mit Füßen getreten wird. Dieses Paradox verdeutlicht die Doppelzüngigkeit und den machtpolitischen Missbrauch religiöser Symbole, die Müller kritisiert. Der abschließende Seufzer des Kreuzes, das sich in sein Schicksal fügen muss, offenbart die Resignation über die Unbegreiflichkeit der Politik.

Die Sprache des Gedichts ist klar und prägnant, was die Ironie und Satire noch verstärkt. Müller verwendet einfache Reimschemata, die den Text eingängig machen, während die humorvollen Bilder und der Sarkasmus die Aufmerksamkeit des Lesers fesseln. Das Gedicht ist ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Entwicklungen im frühen 19. Jahrhundert, in dem religiöse Werte durch Kommerz und politische Interessen verdrängt wurden. Es wirft Fragen nach der wahren Bedeutung von Glauben und Tradition auf und prangert die Heuchelei an, die mit der Instrumentalisierung religiöser Symbole einhergeht.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.