Ein Bürger spricht
Am Sonntag geh ich gerne ins Café.
Ich treffe viele meinesgleichen,
Die sich verträumt die neuste Anekdote reichen –
Und manche Frau im Negligé.
Sie sitzt zwar meist bei einem eleganten
Betrübten Herrn –
Ich sitz bei meinen Anverwandten
Und streichle sie von fern.
Ich streichle ihre hold entzäumten Glieder
Und fühle ihr ein wenig auf den Zahn.
Der Ober lächelt freundlich auf mich nieder.
Ein junger Künstler pumpt mich an.
Bei dem mir angetrauten Fleisch lieg ich dann nachts im Bette
Und denke an mein Portemonnaie.
Wenn ich ihm doch die fünf Mark nicht geliehen hätte!
O süße Frau im Negligé!
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Ein Bürger spricht“ von Klabund zeichnet das Bild eines scheinbar bürgerlichen Mannes, der am Sonntag das Café besucht und dort in seinen Gedanken eine zwiespältige Gefühlswelt offenbart. Der Dichter verwendet hier eine ironische Distanz, um die inneren Konflikte und Begierden des Protagonisten zu beleuchten. Der Bürger wirkt nach außen konform und scheinbar harmlos, doch seine Gedanken, die er dem Leser offenbart, zeigen ein tiefes Begehren nach einer anderen Frau.
Die erste Strophe beschreibt die äußere Umgebung: das Café, die Gesellschaft von Gleichgesinnten und das Auftreten von Frauen im Negligé. Der Dichter stellt eine klare Trennung zwischen dem äußeren Anschein und den inneren Wünschen des Bürgers her. Die „Frau im Negligé“ wird zum Objekt der Sehnsucht, während er selbst bei seinen „Anverwandten“ sitzt. In der zweiten Strophe werden diese sexuellen Fantasien direkt angesprochen. Der Bürger träumt davon, die Frau aus der Ferne zu „streicheln“ und ihre „Glieder“ zu betrachten. Die Anwesenheit des Oberkellners und eines jungen Künstlers, die ihn offenbar nach Geld fragen, kontrastieren mit dieser verbotenen Fantasie.
Die letzte Strophe offenbart die Tragik der Situation. Der Bürger kehrt zu seiner „angetrauten“ Frau zurück und liegt dann nachts im Bett. Anstatt sich der intimen Situation hinzugeben, werden seine Gedanken von finanziellen Sorgen überlagert. Er ärgert sich über das geliehene Geld und sehnt sich stattdessen nach der „süßen Frau im Negligé“. Das Portemonnaie und die damit verbundene finanzielle Belastung werden zum Symbol für die Realität, die seine unerfüllten Wünsche überschattet. Der Kontrast zwischen den erotischen Fantasien und der banalen Alltagswelt wird in dieser letzten Strophe auf den Höhepunkt getrieben.
Klabunds Gedicht ist eine satirische Betrachtung der bürgerlichen Moral und Doppelmoral. Der Bürger ist gefangen in einem Korsett aus Konventionen und gesellschaftlichen Erwartungen, während er gleichzeitig von ungestillten Sehnsüchten und Begierden gequält wird. Die Ironie liegt in der Diskrepanz zwischen dem äußeren Schein und den inneren Abgründen, die der Dichter mit wenigen, aber präzisen Worten offenlegt. Die „Frau im Negligé“ verkörpert dabei die verbotene Frucht, die er sich aus der Ferne erträumt, während die „angetraut“ Ehefrau die Pflicht und die Alltagssorgen repräsentiert.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.