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Die Spitze

Von

I

Menschlichkeit: Namen schwankender Besitze,
noch unbestätigter Bestand von Glück:
ist das unmenschlich, daß zu dieser Spitze,
zu diesem kleinen dichten Spitzenstück
zwei Augen wurden? – Willst du sie zurück?
Du Langvergangene und schließlich Blinde,
ist deine Seligkeit in diesem Ding,
zu welcher hin, wie zwischen Stamm und Rinde,
dein großes Fühlen, kleinverwandelt, ging?
Durch einen Riß im Schicksal, eine Lücke
entzogst du deine Seele deiner Zeit;
und sie ist so in diesem lichten Stücke,
daß es mich lächeln macht vor Nützlichkeit.
II

Und wenn uns eines Tages dieses Tun
und was an uns geschieht gering erschiene
und uns so fremd, als ob es nicht verdiene,
daß wir so mühsam aus den Kinderschuhn
um seinetwillen wachsen -: Ob die Bahn
vergilbter Spitze, diese dichtgefügte
blumige Spitzenbahn, dann nicht genügte,
uns hier zu halten; sieh: sie ward getan.
Ein Leben ward vielleicht verschmäht, wer weiß?
Ein Glück war da und wurde hingegeben,
und endlich wurde doch, um jeden Preis,
dies Ding daraus, nicht leichter als das Leben
und doch vollendet und so schön als sei′s
nicht mehr zu früh, zu lächeln und zu schweben.

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Gedicht: Die Spitze von Rainer Maria Rilke

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die Spitze“ von Rainer Maria Rilke ist eine tiefgründige Auseinandersetzung mit der Natur der menschlichen Existenz, dem Wert von Kunst und der Vergänglichkeit. Es reflektiert über die menschliche Sehnsucht nach Beständigkeit und die Rolle von Kreativität im Angesicht des Todes und der Sinnlosigkeit. Der Titel „Die Spitze“ bezieht sich auf ein filigranes Spitzenstück, das als Metapher für ein vollendetes Kunstwerk oder einen Moment der Schönheit dient, der aus dem Leben herausgearbeitet wurde.

Im ersten Teil des Gedichts wird die Frage nach der Rechtfertigung der menschlichen Bemühungen im Angesicht der Vergänglichkeit aufgeworfen. Die „Menschlichkeit“ wird als unsichere Basis für Glück und Besitz beschrieben. Die Zeilen fragen, ob die Mühe, die in ein Spitzenstück investiert wurde, durch die menschliche „Spitze“ zu erreichen sei, ob die „Augen“ (als Symbol des Bewusstseins und der Wahrnehmung) wirklich das Richtige tun. Das Gedicht scheint die „Langvergangene“ anzusprechen, was auf eine verstorbene Person oder eine vergangene Ära hindeutet. Die Verfasserin oder der Verfasser fragt, ob die Seele in diesem Kunstwerk, in dieser Spitze, ihre Erfüllung gefunden hat, nachdem sie sich aus der Zeit zurückgezogen hat. Der letzte Vers des ersten Teils drückt ein Gefühl der Befriedigung und des Staunens über die „Nützlichkeit“ des Kunstwerks aus.

Der zweite Teil des Gedichts erweitert diese Reflexionen, indem er die Möglichkeit in Betracht zieht, dass die menschlichen Anstrengungen und das gesamte Leben letztendlich unbedeutend erscheinen könnten. Es wird gefragt, ob die Spitze, die „blumige Spitzenbahn“, ausreicht, um uns festzuhalten, um uns zu befriedigen, selbst wenn die Welt um uns herum unwichtig oder sinnlos erscheint. Das Gedicht deutet an, dass ein Leben, ein Glück oder sogar beides möglicherweise aufgegeben wurden, um dieses vollendete Kunstwerk zu schaffen.

Der abschließende Teil des Gedichts feiert die Schönheit und Vollendung dieses Spitzenstücks. Es ist „nicht leichter als das Leben“, aber „vollendet“ und „so schön“. Hier wird das Gefühl ausgedrückt, dass die Arbeit und die Opfer, die in die Schaffung des Kunstwerks geflossen sind, sich gelohnt haben. Das Gedicht suggeriert eine Art Erlösung oder Trost in der Kunst, die über die flüchtigen Erfahrungen des Lebens hinausgeht. Das Lächeln und das Schweben am Ende deuten auf ein Gefühl der Befreiung und der Akzeptanz hin. Rilke legt mit diesem Gedicht die Bedeutung des Kunstwerks in der menschlichen Erfahrung frei.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.