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Der Rebensproß

Von

Fruchtschwer an Lesbos’ sonnigen Höhn erwuchs
Ein hehrer Weinstock, welcher Ambrosia,
Voll Hochgefühls und Hochgesanges,
Zeitigte, durch Dionysos Obhut,
Der rohen Tiersinn zähmte zu Menschlichkeit.
Anstaunenswürdig, mitten im Tempelhain,
Dichtlaubig, schwer von reifem Purpur,
Stand der ambrosische Lebensweinbaum.

Hier trank Arion schmelzenden Zauberhall,
Mit Nymph und Satyr schwärmend im Hain; es trank
Sturmlauten Freiheitsschwung Alkäos,
Brautmelodien die entzückte Sappho.

Zwar ach! verhallt sind ihre Gesäng in Nacht:
Doch weht in Flaccus lebende Harmonie
Nachhall; und sanft um tote Rollen
Tönt in den Schlacken Vesuvs ihr Lispel.

Mir trug Lyäos, mir der begeisternden
Weinrebe Sprößling; als, dem Verstürmten gleich
Auf ödem Eiland, ich mit Sehnsucht
Wandte den Blick zur Hellenenheimat.

Schamhaft erglühend, nahm ich den heiligen
Rebschoß, und hegt’ ihn, nahe dem Nordgestirn,
Abwehrend Luft und Ungeschlachtheit,
Unter dem Glas in erkargter Sonne.

Vom Trieb der Gottheit, siehe, beschleuniget,
Stieg Rankenwaldung übergewölbt, mich bald
Mit Blüte, bald mit grünem Herling,
Bald mit geröteter Traub umschwebend.

Im süßen Anhauch träum ich, der Zeit entflohn,
Wettkampf mit altertümlichem Hochgesang.
Wer lauter ist, der koste freundlich,
Ob die Ambrosiafrucht gereift sei.

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Gedicht: Der Rebensproß von Johann Heinrich Voß

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Der Rebensproß“ von Johann Heinrich Voß ist eine Hymne an die Kunst, insbesondere an die Poesie, die durch die Metapher des Weinbaus repräsentiert wird. Es beschreibt die Kultivierung und Pflege eines Rebsprösslings, der symbolisch für die Entstehung und Entwicklung von Kunstwerken steht. Das Gedicht beginnt mit einer Beschreibung eines Weinbergs in Lesbos, dem Ursprungsort der lyrischen Poesie, die bereits die Ambrosia, den Nektar der Götter, hervorbrachte. Diese Einleitung etabliert den hohen Anspruch und die göttliche Inspiration, die Voß der Kunst zuspricht.

Der zweite Teil des Gedichts evoziert die Atmosphäre der Antike, indem er von den Dichtern und Musikern erzählt, die an dem heiligen Ort wirkten. Arion, Alkäos und Sappho, alle berühmt für ihre Künste, tranken vom Wein und erzeugten damit ihre Kunstwerke. Die Verse beschwören eine Welt des Rausches, der Kreativität und der Freiheit. Dieser Abschnitt dient dazu, die historische Tiefe und die Bedeutung der Kunst hervorzuheben, die aus dieser Tradition entspringt. Das Gedicht ist ein Loblied auf die antike Dichtung und deren Kraft, zu inspirieren und zu bewegen.

Die folgenden Strophen wechseln zu einer persönlichen Ebene, in der der Dichter seine eigene Erfahrung schildert. Er, wie ein Gestrandeter, sehnt sich nach der Heimat der Kunst und nimmt einen Rebensproß auf, um ihn in seinem eigenen Garten, fernab der Sonne, zu pflegen. Dieser Akt der Hingabe und Pflege des „heiligen Rebschoßes“ symbolisiert die Bemühungen des Dichters, die Kunst zu bewahren und zu kultivieren, selbst unter widrigen Umständen. Der Dichter kultiviert die Kunst, der Trieb der Gottheit wächst und bringt Frucht hervor.

Die letzten Strophen beschreiben das Wachsen des Rebstocks und die daraus resultierenden Früchte, die Trauben. Das Gedicht endet mit einer Einladung an den Leser, die Früchte dieser Kunst zu kosten und zu beurteilen, ob sie reif und wertvoll sind. Es ist eine Anerkennung des schöpferischen Prozesses und eine Aufforderung an die Rezipienten, sich aktiv mit der Kunst auseinanderzusetzen und deren Wert zu beurteilen. Dies impliziert die Notwendigkeit der kritischen Auseinandersetzung und der Wertschätzung der Kunst, die letztendlich die ewige Wirkung der Kunst sichert.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.