In der Mitte aller Dinge
Wohne Ich, der Sohn des Himmels.
Meine Frauen, meine Bäume,
Meine Tiere, meine Teiche
Schließt die erste Mauer ein.
Drunten liegen meine Ahnen:
Aufgebahrt mit ihren Waffen,
Ihre Kronen auf den Häuptern,
Wie es einem jeden ziemt,
Wohnen sie in den Gewölben.
Bis ins Herz der Welt hinunter
Dröhnt das Schreiten meiner Hoheit.
Stumm von meinen Rasenbänken,
Grünen Schemeln meiner Füße,
Gehen gleichgeteilte Ströme
Osten-, west- und süd- und nordwärts,
Meinen Garten zu bewässern,
Der die weite Erde ist.
Spiegeln hier die dunkeln Augen.
Bunten Schwingen meiner Tiere,
Spiegeln draußen bunte Städte,
Dunkle Mauern, dichte Wälder
Und Gesichter vieler Völker.
Meine Edlen, wie die Sterne,
Wohnen rings um mich, sie haben
Namen, die ich ihnen gab,
Namen nach der einen Stunde.
Da mir einer näher kam,
Frauen, die ich ihnen schenkte,
Und den Scharen ihrer Kinder;
Allen Edlen dieser Erde
Schuf ich Augen, Wuchs und Lippen.
Wie der Gärtner an den Blumen.
Aber zwischen äußern Mauern
Wohnen Völker meine Krieger,
Völker meine Ackerbauer.
Neue Mauern und dann wieder
Jene unterworfnen Völker,
Völker immer dumpfern Blutes,
Bis ans Meer, die letzte Mauer,
Die mein Reich und mich umgibt.
Der Kaiser von China spricht:
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Der Kaiser von China spricht“ von Hugo von Hofmannsthal zeichnet das Bild einer Herrschaft, die durch Isolation, Macht und eine alles umfassende Ordnung gekennzeichnet ist. Der Kaiser, als „Sohn des Himmels“, nimmt eine zentrale Position in der Welt ein, umgeben von seinem Hof, seinen Besitzungen und seinen Untertanen, die in einer hierarchischen Struktur angeordnet sind. Das Gedicht entfaltet diese Struktur in einer Reihe von konzentrischen Kreisen, die von den unmittelbaren Besitztümern des Kaisers bis zu den entfernteren Rändern seines Reichs reichen.
Die zentrale Metapher des Gedichts ist der Garten, der die Welt repräsentiert. Der Kaiser ist der Gärtner, der über sein Reich herrscht und es bewässert, wodurch die Ordnung und das Wachstum erhalten bleiben. Die Elemente des Gartens – die Bäume, Tiere, Teiche und später die Städte, Wälder und Völker – sind Spiegelbilder der Macht und der Kontrolle des Kaisers. Die „dunklen Augen“ des Kaisers spiegeln sich in der äußeren Welt, was die allgegenwärtige Präsenz und den Einfluss des Herrschers verdeutlicht. Diese Spiegelung suggeriert eine Verschmelzung von innerer und äußerer Welt, in der der Kaiser nicht nur über sein Reich herrscht, sondern auch dessen Wesen verkörpert.
Ein zentrales Thema ist die Isolation des Herrschers. Der Kaiser wohnt „in der Mitte aller Dinge“, doch diese zentrale Position ist auch eine Position der Abgeschiedenheit. Die Mauern, die sein Reich umgeben, dienen nicht nur dem Schutz, sondern auch der Abgrenzung. Die Hierarchie der Untertanen, von den Edlen bis zu den „dumpfern Blutes“ Völkern, verstärkt diese Isolation, indem sie eine klare Distanz zwischen dem Kaiser und seinen Untergebenen schafft. Die „Namen nach der einen Stunde“, die der Kaiser seinen Edlen gibt, implizieren eine willkürliche, aber autoritäre Beziehung, in der der Herrscher über das Schicksal und die Identität anderer Menschen bestimmt.
Die Sprache des Gedichts ist feierlich und distanziert, was die erhabene Position des Kaisers und die Strenge seiner Herrschaft widerspiegelt. Die Aufzählung der Dinge, die den Kaiser umgeben – Frauen, Bäume, Tiere – sowie die Beschreibungen der Hierarchie und der Mauern unterstreichen die umfassende Kontrolle und die Ordnung, die das Reich kennzeichnen. Die Metaphorik des Gartens und der Spiegelung verstärkt die Vorstellung von Macht und Einfluss, während die Isolation des Kaisers die Tragik seines Zustands andeutet, der trotz seiner Allmacht von der Außenwelt getrennt ist.
Insgesamt ist das Gedicht eine Reflexion über Macht, Isolation und die Ordnung, die ein Herrscher über sein Reich ausübt. Es zeichnet das Bild eines Kaisers, der zwar im Zentrum der Welt steht, aber gleichzeitig von dieser Welt durch Mauern, Hierarchien und eine allumfassende Ordnung getrennt ist. Die Vielschichtigkeit des Gedichts liegt in der Spannung zwischen der manifesten Macht des Kaisers und seiner tiefen Isolation, was eine tiefgründige Auseinandersetzung mit den Themen Herrschaft und dem menschlichen Zustand ermöglicht.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.
