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Der große Krebs im Mohriner See

Von

Die Stadt Mohrin hat immer acht,
Kuckt in den See bei Tag und Nacht.
Kein gutes Christenkind erlebs,
Daß los sich reiß der große Krebs!
Er ist im See mit Ketten geschlossen unten an,
Weil er dem ganzen Lande Verderben bringen kann.
Man sagt: er ist viel Meilen groß
Und wendt sich oft und, kommt er los,
So währts nicht lang, er kommt ans Land:
Ihm leistet keiner Widerstand.
Und weil das Rückwärtsgehen bei Krebsen alter Brauch,
So muß dann alles mit ihm zurücke gehen auch.

Das wird ein Rückwärtsgehen sein!
Steckt einer was ins Maul hinein,
So kehrt der Bissen, vor dem Kopf,
Zurück zum Teller und zum Topf.
Das Brot wird wieder zu Mehle, das Mehl wird wieder Korn –
Und alles hat beim Gehen den Rücken dann nach vorn.

Der Balken löst sich aus dem Haus
Und rauscht als Baum zum Wald hinaus,
Der Baum kriecht wieder in den Keim,
Der Ziegelstein wird wieder Leim.
Der Ochse wird zum Kalbe, das Kalb geht nach der Kuh,
Die Kuh wird auch zum Kalbe, so geht es immerzu!

Zur Blume kehrt zurück das Wachs,
Das Hemd am Leibe wird zu Flachs,
Der Flachs wird wieder blauer Lein
Und kriecht dann in den Acker ein.
Man sagt, beim Bürgermeister zuerst die Not beginnt,
Der wird von allen Leuten zuerst ein Päppelkind.

Dann muß der edle Rat daran,
Der wohlgewitzte Schreiber dann;
Die erbgesessne Bürgerschaft
Verliert gemach die Bürgerkraft.
Der Rektor in der Schule wird wie ein Schülerlein,
Kurz eines nach dem andern wird Kind und dumm und klein.

Und alles kehrt im Erdenschoß
Zurück zu Adams Erdenkloß.
Am längsten hält was Flügel hat,
Doch wird zuletzt auch dieses matt,
Die Henne wird zum Küchlein, das Küchlein kriecht ins Ei,
Das schlägt der große Krebs dann mit seinem Schwanz entzwei.

Zum Glücke kommts wohl nie so weit!
Noch blüht die Welt in Fröhlichkeit!
Die Obrigkeit hat wacker acht,
Daß sich der Krebs nicht locker macht.
Auch für dies arme Liedchen wär das ein schlechtes Glück:
Es lief vom Mund der Leute ins Dintenfaß zurück.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Der große Krebs im Mohriner See von August Kopisch

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Der große Krebs im Mohriner See“ von August Kopisch ist eine humorvolle und fantasievolle Auseinandersetzung mit dem Thema des drohenden Untergangs und der Rückkehr zum Ursprung. Das Gedicht entwirft ein Szenario, in dem ein riesiger Krebs im Mohriner See gefangen gehalten wird. Sollte dieser Krebs entkommen, würde er nicht nur die Stadt, sondern die gesamte Welt in einen Zustand des Rückwärtsgehens versetzen.

Die eigentliche Stärke des Gedichts liegt in der detailreichen und absurden Beschreibung dieses Rückwärtsgangs. Kopisch malt lebendige Bilder, wie sich die Natur, die Gebäude und die Gesellschaft im Zuge des Krebsausbruchs verändern würden. Dinge, die sich in unserem Leben vorwärts entwickeln, würden sich im Gegenzug wieder rückwärts entwickeln, wie beispielsweise das Essen, das aus dem Mund zurück zum Teller wandert, oder das Haus, das wieder zum Baum wird. Die klare Gliederung in Strophen, die jeweils einen Aspekt der Rückentwicklung behandeln, verstärkt den spielerischen Charakter des Gedichts.

Besonders bemerkenswert ist die politische und gesellschaftliche Satire, die in den letzten Strophen zum Ausdruck kommt. Kopisch stellt die Auswirkungen des Rückwärtsgangs auf die Obrigkeit und die Bildung dar. Der Bürgermeister, der Rat der Stadt, der Schreiber und selbst der Rektor der Schule verlieren ihre Macht und Autorität, während sie wieder in den kindlichen Zustand zurückfallen. Diese satirische Darstellung verdeutlicht die Fragilität der menschlichen Ordnung und die mögliche Auflösung gesellschaftlicher Strukturen.

Der letzte Teil des Gedichts beruhigt den Leser jedoch mit einem optimistischen Ausblick. Die Angst vor dem Untergang wird durch die Betonung der ständigen Überwachung des Krebses durch die Obrigkeit abgeschwächt. Der Autor schließt mit einem augenzwinkernden Appell an das Glück und die Hoffnung, dass das Szenario des Rückwärtsgehens nur eine spielerische Fantasie bleibt, und befürchtet, dass auch sein eigenes Lied wieder in das Tintenfass zurückkehren würde, falls der Krebs entkommen sollte. Dies unterstreicht die Leichtigkeit und den Humor, mit dem Kopisch das ernste Thema des Verfalls und der Ordnung behandelt.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.