Der Gesang des Meeres
Wolken, meine Kinder, wandern gehen
wollt ihr? Fahret wohl! Auf Wiedersehen!
Eure wandellustigen Gestalten
kann ich nicht in Mutterbanden halten.
Ihr langweilet euch auf meinen Wogen,
dort die Erde hat euch angezogen:
Küsten, Klippen und des Leuchtturms Feuer!
Ziehet, Kinder! Geht auf Abenteuer!
Segelt, kühne Schiffer, in den Lüften!
Sucht die Gipfel! Ruhet über Klüften!
Brauet Stürme! Blitzet! Liefert Schlachten!
Traget glühnden Kampfes Purpurtrachten!
Rauscht im Regen! Murmelt in den Quellen!
Füllt die Brunnen! Rieselt in die Wellen!
Braust in Strömen durch die Lande nieder –
Kommet, meine Kinder, kommet wieder!
Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Der Gesang des Meeres“ von Conrad Ferdinand Meyer ist eine Personifikation des Meeres, das seine Wolkenkinder in die Welt entlässt und ihnen gleichzeitig eine freudige Rückkehr verheißt. Das Meer wird hier als eine Art liebevolle Mutter dargestellt, die ihre Kinder, die Wolken, in die weite Welt ziehen lässt, um Abenteuer zu erleben und die Schönheit der Erde zu erkunden. Der Ton ist wehmütig, aber vor allem von großer Freiheit und einem positiven Blick auf die Welt geprägt.
Die Struktur des Gedichts ist klar gegliedert. Im ersten Abschnitt, den ersten vier Zeilen, werden die Wolken zum Abschied verabschiedet. Das Meer gibt seine Kinder frei und wünscht ihnen alles Gute. Die folgenden zwei Strophen beschreiben die Aufgaben der Wolken, die sie in der Welt erfüllen sollen. Sie sollen segeln, Stürme entfachen, blitzen und regnen. Diese Beschreibung evoziert ein Bild der Unbändigkeit und des Lebens, das die Wolken mit sich tragen.
Die Metaphern und Bilder, die Meyer verwendet, sind reich und vielfältig. Das Meer wird zur Mutter, die Wolken zu den Kindern. Die Erde mit ihren Küsten, Klippen und dem Leuchtturmfeuer übt eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus, ähnlich wie ein Spielplatz für Kinder. Die Sprache ist bildhaft und lebendig, mit zahlreichen Verben, die Bewegung und Dynamik vermitteln. Das „glühende Kampfes Purpurtrachten“ (Zeile 12) etwa, suggeriert eine kraftvolle und leidenschaftliche Auseinandersetzung mit der Welt.
Das Gedicht endet mit einer Einladung zur Rückkehr. Das Meer ruft seine Kinder zurück und deutet an, dass sie irgendwann in seinen Schoß zurückkehren werden, nach all den Abenteuern und Erfahrungen. Dies verleiht dem Gedicht eine Zirkularität, die das Leben und den Kreislauf der Natur widerspiegelt. Die abschließende Zeile „Kommet, meine Kinder, kommet wieder!“ drückt die tiefe Verbundenheit und die Sehnsucht des Meeres nach seinen Kindern aus.
Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.
Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.