Der Gefangene
Oftmals hab ich nachts im Bette
Schon gegrübelt hin und her,
Was es denn geschadet hätte,
Wenn mein Ich ein andrer wär.
Höhnisch raunten meine Zweifel
Mir die tolle Antwort zu:
Nichts geschadet, dummer Teufel,
Denn der andre wärest du!
Hilflos wälzt ich mich im Bette
Und entrang mir dies Gedicht,
Rasselnd mit der Sklavenkette,
Die kein Denker je zerbricht.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Der Gefangene“ von Frank Wedekind ist eine introspektive Auseinandersetzung mit der eigenen Identität und dem Gefühl der Gefangenschaft, das durch Selbstzweifel und innere Zerrissenheit entsteht. Das lyrische Ich hadert mit seinem Selbst und hinterfragt, ob eine Veränderung seiner Person wünschenswert wäre.
Der erste Teil des Gedichts, bestehend aus den ersten beiden Strophen, schildert die nächtlichen Grübeleien des lyrischen Ichs. Es sinniert über die Möglichkeit, eine andere Person zu sein, und die vermeintlichen Konsequenzen, die dies hätte. Die Antwort, die die Zweifel geben, ist zynisch und resignativ: Es hätte keinerlei Schaden angerichtet, da das andere Ich letztendlich immer noch das eigene wäre. Diese Erkenntnis offenbart die Unveränderlichkeit des Selbst, die das lyrische Ich als eine Form der Gefangenschaft empfindet. Die Zweifel werden als „höhnisch“ beschrieben, was auf eine innere Stimme hindeutet, die das Selbst in Frage stellt und verspottet.
Der zweite Teil des Gedichts, die letzte Strophe, mündet in einem Gefühl der Hilflosigkeit. Das lyrische Ich, gefangen in seinen Gedanken, „entrang“ sich das Gedicht, was die Anstrengung und den Leidensdruck des Schreibprozesses verdeutlicht. Die „Sklavenkette“, die das Ich metaphorisch trägt, steht für die Fesseln der eigenen Denkweise und der Identität, von der es sich nicht befreien kann. Der Hinweis, dass „kein Denker“ diese Kette je zerbricht, unterstreicht die Hoffnungslosigkeit und die Unabänderlichkeit dieser inneren Gefangenschaft.
Wedekinds Gedicht zeichnet sich durch seine einfache, aber eindringliche Sprache aus. Die Reime und der klare Rhythmus erleichtern den Zugang zu dem Text, während die Bildsprache, insbesondere die Metapher der „Sklavenkette“, die tiefe innere Zerrissenheit des lyrischen Ichs lebendig werden lässt. Die Thematik der Identität, des Selbstzweifels und der Unfreiheit ist universell und zeitlos, wodurch das Gedicht auch heute noch seine Leser berührt und zum Nachdenken anregt.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.