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Der Berg der Seligkeit

Von

Ein Bergesrücken stillbesonnt,
Allum der duftge Horizont! –
Hier sass der Christ und rings im Kreis
Die Galiläer, stufenweis
Gelagert, auf den steilen Triften.
Der Meister lobt′ der Lilie Kleid,
Hiess göttlich Werk das Friedestiften
Und rühmte die Barmherzigkeit.
Er liess die Segensschwingen breiten
All seines Reiches Seligkeiten.
Dann ist er sacht hinabgegangen …
Und hat am Kreuzesstamm gehangen.

Am Berg der Seligkeiten irrten
Der Hirtin Stapfen und des Hirten.
Wie Wolken still, wie Stürme brausend,
Zog dran vorüber ein Jahrtausend.
Die Lilie blieb des Lobes froh,
Sie kleide sich wie Salomo,
Die Luft, drin nie das Erz erscholl
Ist noch von Friedeworten voll.
Drommetenstoss! Jach klimmt empor
Ein Heer, das Schlacht und Raum verlor.

Kreuzritter sinds, von Saladin
Versprengt, die wild zur Höhe fliehn!
Heiss unter ihren Schritten her
Entflammt den dürren Rasen er,
In schwarzen Wolken wallt der Qualm.
Schlachtrosse schnauben auf der Alm.
Scharf pfeifen Sarazenenpfeile
Durch dieses Fluchtgedränges Eile.
Fort! Ein verfärbter Purpur weht,
Ein junger König wankt entkräftet,
Doch dieses Reiches Majestät
Ist König Christ, ans Kreuz geheftet,
Drum tragen sie das Kreuz voran,
Der Welterbarmer schwebte dran,
Das bittre Kreuz, davon herab
Er seines Mordes Schuld vergab.
Sie wuschens dann mit roten Bächen,
Um des Erbarmers Tod zu rächen …
Das Wüten, Morden, Bluten, Streiten
Ersteigt den Berg der Seligkeiten.
Erklommen ist der Gipfel jetzt,
Und hinter ihm erbraust das Meer.
Der Kurdenschleuder ausgesetzt,
Steht auf dem Kulm das Christenheer.

Drommetenstoss! „Der Heiland lebt!
Christus regiert!“ Der Berg erbebt.
„Hilf, König, der gekreuzigt wurde!“ –
„Zielt auf das Kreuz!“ befiehlt der Kurde.
„Wie blöde Falter um die Flamme,
So flattern sie am Kreuzesstamme!“
Es saust. Steilnieder zu der Bucht
Stürzt Ross und Reiter in die Schlucht.
Das Kreuz mit Glut und brünstger Hast
Umfängt ein Mönch und hälts umfasst:
„Hörst, König, du der Heiden Spott?
Vernichte sie, verhöhnter Gott!
In heller Rüstung komm gefahren
Mit deines Vaters Engelscharen!

Lebst du, regierst du, Christe, nicht?“
Kein Engelschwert erblitzt im Licht.
Die Luft verfinstert Pfeilgesaus –
„Komm!“ schreit der Mönch und atmet aus.

Des Himmels innigtiefer Schein
Umfliesst ein menschenleer Gestein.
Vom Schwert erkämpft, vom Schwert zerstört,
Dies Reich hat nicht dem Christ gehört.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Der Berg der Seligkeit von Conrad Ferdinand Meyer

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Der Berg der Seligkeit“ von Conrad Ferdinand Meyer ist eine vielschichtige Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben, dem Ideal der Seligkeit und der brutalen Realität der Geschichte. Das Gedicht, in drei Hauptabschnitte unterteilt, zeichnet ein Bild von Verheißung, Verfall und Verzweiflung, das durch die wiederkehrenden Motive von Berg, Kreuz und Kampf strukturiert wird.

Der erste Teil etabliert die Szene am Berg der Seligkeiten, wo Jesus seine Lehre verkündet und die Grundlagen der christlichen Tugenden wie Frieden, Barmherzigkeit und die Freude an der Schöpfung hervorhebt. Das Bild der Lilie, die im Lob des Meisters erwähnt wird, steht für Schönheit und Reinheit, die durch das göttliche Werk geschaffen wurden. Die Beschreibung des friedlichen Szenarios wird jedoch durch die Andeutung des Todes Jesu am Kreuz konterkariert, was einen ersten Hinweis auf die Tragik gibt, die folgen wird. Dieser Abschnitt dient als Kontrast, der die Ideale des christlichen Glaubens vorstellt und die folgende Geschichte der Gewalt und des Scheiterns umso drastischer macht.

Der zweite Teil beschreibt die Ankunft der Kreuzritter, die in einer blutigen Schlacht gegen die Muslime unter Saladin kämpfen. Die friedliche Szene wird durch kriegerische Bilder ersetzt: „Schlachtrosse schnauben auf der Alm“, „Scharf pfeifen Sarazenenpfeile“. Die Kreuzritter, getrieben von religiösem Eifer, besteigen den Berg, doch ihre Bemühungen sind vergeblich. Sie tragen das Kreuz voran, aber das Gedicht enthüllt die Ironie, dass das, wofür sie kämpfen – der christliche Glaube – durch Gewalt und Blutvergießen entweiht wird. Die Zerstörung und das Morden werden so zu einem zentralen Thema, was die Diskrepanz zwischen der ursprünglichen Botschaft Jesu und der historischen Realität der Kreuzzüge aufzeigt.

Der dritte Teil zeigt den Höhepunkt der Tragödie, in dem die Kreuzritter auf dem Gipfel von den Kurden angegriffen werden. Das Gedicht gipfelt in der Verzweiflung eines Mönchs, der Gott anfleht, einzugreifen und die Heiden zu vernichten. Doch die Antwort des Himmels ist Stille, und das Reich, das durch das Schwert erobert wurde, wird durch das Schwert wieder zerstört. Das Gedicht endet mit dem Bild eines menschenleeren Gesteins, das die Sinnlosigkeit des Krieges und die Vergänglichkeit aller irdischen Errungenschaften symbolisiert. Meyer deutet damit an, dass die menschliche Suche nach Seligkeit durch Gewalt und Fanatismus untergraben wird, und stellt somit die Frage nach dem wahren Wesen des Glaubens.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.