Der Anarchist
Reicht mir in der Todesstunde
Nicht in Gnaden den Pokal!
Von des Weibes heißem Munde
Laßt mich trinken noch einmal!
Mögt ihr sinnlos euch berauschen,
Wenn mein Blut zerrinnt im Sand.
Meinen Kuß mag sie nicht tauschen,
Nicht für Brot aus Henkershand.
Einen Sohn wird sie gebären,
Dem mein Kreuz im Herzen steht,
Der für seiner Mutter Zähren
Eurer Kinder Häupter mäht.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Der Anarchist“ von Frank Wedekind ist eine trotzige und provokative Äußerung, die den Kampf eines Individuums gegen die Gesellschaft und ihre Konventionen thematisiert. Es ist ein Zeugnis des Hedonismus und der Ablehnung jeglicher Autorität, selbst im Angesicht des Todes. Der Anarchist wendet sich gegen traditionelle Werte und präsentiert stattdessen eine Welt, in der Leidenschaft, Liebe und Rebellion im Mittelpunkt stehen.
Das Gedicht ist in zwei Hauptteile gegliedert: Im ersten Teil, der aus den ersten vier Versen besteht, äußert der Anarchist seine letzten Wünsche. Er verlangt nicht nach religiösem Trost oder Gnade, sondern nach einem letzten Genuss, einem Kuss von der Frau, die er liebt. Dieser Wunsch nach sinnlicher Erfüllung unterstreicht seine Ablehnung konventioneller Werte und seinen Wunsch nach einem intensiven, leidenschaftlichen Leben bis zum bitteren Ende. Die Zeile „Von des Weibes heißem Munde / Laßt mich trinken noch einmal!“ ist ein Ausdruck extremer Begierde und des Verlangens nach einer letzten Verbindung mit der Frau, bevor er stirbt.
Der zweite Teil des Gedichts (Verse 5-12) offenbart die Konsequenzen des Handelns des Anarchisten und seiner Ideologie. Er verhöhnt die Gesellschaft, die ihn hinrichten wird, und weist deren trübe Moralvorstellungen zurück. Sein Blick ist nach vorn gerichtet, zur Zukunft, in der seine Ideale durch seinen Nachkommen weitergetragen werden. Der letzte Teil, in dem er die Geburt eines Sohnes vorhersagt, der sein Vermächtnis der Rebellion fortführen wird, ist besonders kraftvoll. Der Sohn soll die Tränen seiner Mutter rächen, indem er die Kinder seiner Feinde tötet. Dieser Rachegedanke ist ein deutliches Zeichen für die radikale Natur des Anarchisten und seinen unerbittlichen Hass auf die Gesellschaft, die ihn verurteilt hat.
Die Sprache des Gedichts ist einfach, aber kraftvoll und direkt. Wedekind verwendet klare Bilder und eine starke, rhythmische Struktur, um die Gefühle des Anarchisten zu vermitteln. Die Verwendung von Reimschemata und der Einsatz von einfachen, leicht verständlichen Worten machen das Gedicht zugänglich, während es gleichzeitig die radikale Botschaft verstärkt. Es ist ein Aufruf zum Widerstand, eine Verurteilung der Konventionen und eine Feier der individuellen Freiheit, selbst im Angesicht des Todes. Das Gedicht zeugt von einer tiefgreifenden Ablehnung von Autorität und einem unerschütterlichen Glauben an die Kraft des individuellen Willens.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.