Dein Antlitz
Dein Antlitz war mit Träumen ganz beladen.
Ich schwieg und sah dich an mit stummem Beben.
Wie stieg das auf! Daß ich mich einmal schon
In frühern Nächten völlig hingegeben
Dem Mond und dem zuviel geliebten Tal,
Wo auf den leeren Hängen auseinander
Die magern Bäume standen und dazwischen
Die niedern kleinen Nebelwolken gingen
Und durch die Stille hin die immer frischen
Und immer fremden silberweißen Wasser
Der Fluß hinrauschen ließ – wie stieg das auf!
Wie stieg das auf! Denn allen diesen Dingen
Und ihrer Schönheit – die unfruchtbar war –
Hingab ich mich in großer Sehnsucht ganz,
Wie jetzt für das Anschaun von deinem Haar
Und zwischen deinen Lidern diesem Glanz!
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Dein Antlitz“ von Hugo von Hofmannsthal ist eine tiefgründige Reflexion über die Liebe, Sehnsucht und die transformative Kraft der Betrachtung. Es beginnt mit dem Bild eines schweigenden Betrachters, der das mit Träumen erfüllte Antlitz einer geliebten Person anblickt. Diese stille Beobachtung löst ein inneres Beben aus, das den Dichter in eine Erinnerung an vergangene Erfahrungen katapultiert.
Der zweite Teil des Gedichts beschreibt die Vergangenheit des Dichters, in der er sich der Schönheit der Natur, insbesondere des Mondes, des Tals und der vorbeiziehenden Nebel, hingab. Diese Naturerlebnisse werden als „unfruchtbar“ bezeichnet, was darauf hindeutet, dass sie die tiefe Sehnsucht des Dichters nicht stillen konnten. Die Beschreibung der Landschaft, mit ihren „mageren Bäumen“ und dem „immer frischen“ Fluss, erzeugt eine Atmosphäre der Melancholie und des Fernwehs, die durch das „stumme Beben“ des ersten Verses verstärkt wird.
Der Übergang von der Erinnerung an die Natur zur Gegenwart des geliebten Antlitzes ist fließend und verdeutlicht die zentrale Botschaft des Gedichts: die transformative Kraft der Liebe. Die Sehnsucht, die zuvor in der Natur ihre Erfüllung suchte, findet nun ihren Höhepunkt in der Betrachtung des „Haares“ und des „Glanzes“ zwischen den Lidern der Geliebten. Diese Hingabe an die äußere Erscheinung der Geliebten ersetzt die frühere Hingabe an die leere Schönheit der Natur, was eine neue Form der Erfüllung und des Glücks verheißt.
Das Gedicht zeichnet sich durch seine subtile Symbolik und seinen meditativen Ton aus. Die Natur dient als Metapher für eine unerfüllte Sehnsucht, während die Geliebte zum Objekt einer intensiven, erfüllenden Liebe wird. Hofmannsthals Sprache ist reich an Bildern und Emotionen, die die innere Welt des Dichters widerspiegeln und den Leser in die tiefen Gefühle der Liebe und Sehnsucht eintauchen lassen. Die wiederholte Betonung von „Wie stieg das auf!“ verstärkt die plötzliche Erkenntnis und die überwältigende Kraft der Erinnerung und des Gefühls.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.