Logo der Website, Schriftzug "Poesie Oase" mit Palmen umrandet.
, , , , , , , , , , , ,

Das Vaterland

Von

Wir schwebten mit vollen Segeln
Durch grüne Meeresfluth,
Ein buntes Wandervölklein,
Mit leichtem frohem Muth!

Ein Völklein, wie es heute
Der Wind zusammensät,
Und wie er’s morgen wieder
Flink auseinander weht.

Da war ein Mann aus Frankreich,
Vom grünen Rhonestrand;
Goldsaaten, Rebenhügel
Nannt’ er sein Vaterland.

Ein Andrer pries als Heimat
Des Nordens Felsenwall,
Die Gletscher Skandinaviens,
Die Seen von Kristall.

Dort wo als ew’ger Leuchtthurm
Vesuv, der hohe, glüht,
Stand eines Dritten Wiege,
Von Lorbern überblüht.

In deutsche Eichenforste,
Auf grünen Alpenhang,
Zu frischen Au’n der Donau
Zog mich des Heimwehs Drang.

»Laßt hoch die Heimat leben!
Nehmt All’ ein Glas zur Hand!
Nicht Jeder hat ein Liebchen!
Doch Jeder ein Vaterland!«

Und Jeder trank den Becher
Mit flammendem Antlitz aus;
Nur Einer starrte schweigend
Weit in die See hinaus.

Ein Mann war’s aus Venedig,
Der sprach in sich hinein:
»Mein Vaterland, o Heimat,
Du bist nur Wasser und Stein!

Einst glomm der Freiheit Sonne,
Da lebt’ und sprach der Stein,
Und tönte, wie Memnon’s Säule,
Ins Morgenroth hinein!

Da wogte glühend das Wasser,
Mit Purpur gürtend die Welt,
Und Regenbogen schleudernd
Hinauf ins Himmelszelt!

Warum bist du erloschen,
Du schöner Sonnenschein?
Warum bist du, o Heimat,
Jetzt Wasser nur und Stein?«

Er schwieg und starrte lange
Aufs Meer hin unverwandt,
Und, unberührt noch, glänzte
Das Glas in seiner Hand.

Jetzt, wie zum Todtenopfer,
Goß er’s hinab ins Meer!
Wie funkelnde Thränen stoben
Die goldenen Tropfen umher.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Das Vaterland von Anastasius Grün

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Das Vaterland“ von Anastasius Grün präsentiert eine tiefgründige Reflexion über den Begriff der Heimat und die unterschiedlichen Arten, wie Menschen ihn empfinden. Es beginnt mit einer lebhaften Szene, in der eine Gruppe von Reisenden, jedes mit einem individuellen Verständnis von Heimat, zusammenkommt. Diese Eröffnung, die an ein wanderndes Völkchen erinnert, erzeugt ein Gefühl der Vielfalt und des Abenteuers, was durch die Metapher des Meeres unterstrichen wird. Die Segel stehen hier für Freiheit und Bewegung, was das Wandervölklein symbolisiert, welches unterschiedliche Nationalitäten repräsentiert.

Die darauffolgenden Strophen illustrieren die verschiedenen Definitionen von Heimat durch die Augen der Reisenden. Ein Mann aus Frankreich, einer aus Skandinavien und ein weiterer aus Italien beschreiben jeweils ihr Vaterland durch seine geographischen Merkmale. Diese Vielfalt verdeutlicht, dass die Vorstellung von Heimat subjektiv und von persönlichen Erfahrungen geprägt ist. Grün nutzt diese unterschiedlichen Beschreibungen, um die emotionale Verbundenheit der Menschen mit ihrer Heimat zu zeigen. Die Betonung von Landschaftselementen wie Weinbergen, Gletschern und Bergen deutet auf die Sehnsucht nach Vertrautheit und Geborgenheit hin.

Der Höhepunkt des Gedichts ist die Reaktion des venezianischen Mannes. Während die anderen Reisenden ihre Liebe zu ihrem Vaterland mit einem Trinkspruch bekunden, offenbart er eine tiefe Melancholie und Enttäuschung. Sein „Vaterland“ ist für ihn nur „Wasser und Stein“, eine Metapher für den Verlust seiner einstigen Größe und Freiheit. Der Bezug auf die Vergangenheit, als die „Freiheit Sonne“ schien, verstärkt den Kontrast zur Gegenwart und unterstreicht das Gefühl des Verlusts. Der venezianische Mann repräsentiert die Enttäuschung über den Verlust der politischen Freiheit und die Trauer über den Niedergang seiner Heimatstadt Venedig.

Die Schlussstrophen sind von einer starken Symbolik geprägt. Das stille Starren des Mannes auf das Meer und das anschließende Ausgießen seines Trinkbechers in die See sind ein Akt der Verzweiflung und des Abschieds. Das Ausgießen des Bechers kann als ein Opferakt interpretiert werden, eine Geste des Abschieds von der Hoffnung und der Hingabe an die Trauer. Die „funkelnden Tränen“ der goldenen Tropfen unterstreichen die Bitterkeit und den Schmerz über den Verlust der Heimat. Das Gedicht endet mit einem starken Bild des Verlustes und der Trauer, aber auch der anhaltenden Sehnsucht nach einer besseren, freien Zukunft für Venedig.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.