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Das Unglück lieben

Von

Das Unglück lieben – o das heißt,
Durch Dorngestrüppe, das uns blutig,
Das uns das Kleid vom Leibe reißt,
Im Dunkel gehn, am Abgrund mutig;
Es heißt nicht gehn im Sonnenschein,
Jedoch auch leiden nicht allein.

Das Unglück lieben heißt, zugleich
Verachtung, Spott und ohne Klagen,
Gefaßt auf jeden Wetterstreich,
Der Erde Doppellast ertragen,
Dem süßen vorziehn bittern Trank
Und ernten, ach, nur kargen Dank.

Das Unglück lieben heißt, ein Kind
Mit heim von öder Straße nehmen,
Beschützen vor dem rauhen Wind,
Heißt, harten Sinn und Stolz beschämen,
Selbst nicht vor Trotz und Widerstand
Zurückziehn seine Retterhand.

Das Unglück lieben heißt, nicht Flaum
Und weiche Polsterdecken lieben,
Doch die, die umgehn wie im Traum,
Die Ärmsten, die zurückgeblieben,
Errettend wiederum hervor
Geleiten, zu dem Glück empor.

Das Unglück lieben heißt, die Not
Des Erdendaseins ganz empfinden,
Die Ohnmacht vor dem Machtgebot,
Dem kein Geschöpf sich kann entwinden,
Heißt streifen an des Engels Flug,
Der auf die Welt das Mitleid trug.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Das Unglück lieben von Hermann Lingg

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Das Unglück lieben“ von Hermann Lingg ist eine tiefgründige Reflexion über eine Lebenseinstellung, die das Leid und die Widrigkeiten des Lebens nicht scheut, sondern bewusst annimmt und sogar liebt. Es ist kein Lobgesang auf den Pessimismus, sondern eine Hymne an die Widerstandsfähigkeit, die Empathie und die moralische Stärke, die in der Konfrontation mit dem Unglück erwachsen können. Die Metapher der Liebe ist hier im übertragenen Sinne zu verstehen: Es geht nicht um romantische Liebe, sondern um eine tiefe Verbundenheit mit dem Leid der Welt und eine aktive Hinwendung zu den Schwachen und Benachteiligten.

Lingg entfaltet diese Haltung in einer Reihe von Bildern und Beispielen. Er beschreibt, wie diese Liebe zum Unglück sich in mutigem Gang durch Dornengestrüpp und am Abgrund manifestiert, in der Fähigkeit, Spott und Verachtung standzuhalten, und in der Bereitschaft, die „Doppellast der Erde“ zu ertragen. Er hebt hervor, dass diese Liebe keinen Sonnenschein und keine leichte Reise bedeutet, sondern eine bewusste Entscheidung für den bittersüßen Trank und das Ernten von kargem Dank. Dies deutet auf ein Leben hin, das von Opfern geprägt ist, aber auch von einer tiefen inneren Erfüllung.

Ein zentrales Element ist die Nächstenliebe. Lingg verwendet das Bild des Kindes von der Straße, um die Bereitschaft zur Hilfe und zum Schutz der Schwachen zu veranschaulichen. Das „Unglück lieben“ bedeutet, den harten Sinn und den Stolz zu überwinden und trotz Widerstands die rettende Hand zu reichen. Es geht nicht um das Anhäufen von materiellen Gütern oder um das Streben nach Komfort, sondern um das Annehmen der Not, das Verständnis der menschlichen Ohnmacht gegenüber dem Schicksal und die Bereitschaft, sich mit dem Leid der Welt zu verbinden.

Die letzten Strophen deuten eine spirituelle Dimension an. Das „Unglück lieben“ bedeutet, die Not des Erdendaseins ganz zu empfinden und sich der Macht des Schicksals zu stellen. Es ist ein Annähern an den „Flug des Engels“, der Mitleid auf die Welt brachte. Dies impliziert eine moralische Erhebung und ein Streben nach einem höheren Ideal der Menschlichkeit. Die Liebe zum Unglück wird so zu einem Weg der Selbstüberwindung und der moralischen Vervollkommnung. Das Gedicht plädiert für ein Leben, das von Mitgefühl, Mut und der aktiven Auseinandersetzung mit dem Leid geprägt ist, und stellt die Frage nach dem wahren Glück durch die Identifikation mit anderen.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.