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Das Glöcklein

Von

Er steht an ihrem Pfühl in herber Qual,
Den jungen Busen muss er keuchen sehn –
Er ist ein Arzt. Er weiss, sein traut Gemahl
Erblasst, sobald die Morgenschauer wehn.

Sie hat geschlummert: Lieber, du bei mir?
Mir träumte, dass ich auf der Alpe war.
Wie schön mir träumte, das erzähl ich dir –
Du schickst mich wieder hin das nächste Jahr!

Dort vor dem Dorf – du weisst den moosgen Stein –
Sass ich, umhallt von lauter Herdgetön,
An mir vorüber zogen mit Schalmein
Die Herden nieder von den Sommerhöhn.

Die Herden kehren alle heut nach Haus –
Das ist die letzte wohl? Nein, eine noch:
Noch ein Geläut klingt an und eins klingt aus!
Das endet nicht! Da kam das letzte doch!

Mich überflutete das Abendrot,
Die Matten dunkelten so grün und rein,
Die Firne brannten aus und waren tot
Darüber glomm ein leiser Sternenschein –

Da horch! ein Glöcklein läutet in der Schlucht,
Verirrt, verspätet, wanderts ohne Ruh,
Ein armes Glöcklein, das die Herde sucht –
Aufwacht ich dann und bei mir warest du!

O, bring mich wieder auf die lieben Höhn –
Sie haben, sagst du, mich gesund gemacht …
Dort war es schön! Dort war es wunderschön!
Das Glöcklein! Wieder! Hörst du′s? Gute Nacht …“

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Das Glöcklein von Conrad Ferdinand Meyer

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Das Glöcklein“ von Conrad Ferdinand Meyer ist eine eindrucksvolle Darstellung von Krankheit, Erinnerung, Sehnsucht und dem allgegenwärtigen Thema des Todes, verpackt in einer traumhaften Szenerie und subtilen Symbolik. Es entfaltet sich in der Perspektive eines Ehemannes, der seine kranke Frau am Krankenbett beobachtet und ihren Träumen und Fantasien lauscht.

Die Frau berichtet in ihrem Traum von einem idyllischen alpinen Leben, das von Klängen der Natur und dem Läuten von Glocken geprägt ist. Diese Glocken stehen im Zentrum des Gedichts und symbolisieren sowohl die Sehnsucht nach Gesundheit und Unbeschwertheit als auch die Nähe zum Tod. Die Erwähnung des „Glöckleins“, das sich in der Schlucht verirrt hat und die Herde sucht, deutet auf die Verlorenheit der Frau und ihr Suchen nach etwas, das ihr entglitten ist. Das Glöcklein kann dabei als Metapher für die Seele oder das Leben selbst verstanden werden, das sich verirrt und nach Heimkehr sehnt.

Die Natur spielt im Gedicht eine zentrale Rolle. Die Beschreibung der Alpenlandschaft mit ihren grünen Matten, dem Abendrot und dem Sternenschein erzeugt ein Gefühl von Schönheit und Harmonie. Gleichzeitig sind diese Naturbilder von Vergänglichkeit geprägt: Das Abendrot überflutet, die Firne „waren tot“. Diese Details spiegeln den Zustand der Frau wider, die sich zwischen Leben und Tod bewegt. Das Gedicht ist durchzogen von einer subtilen Ambivalenz, die die Schönheit der Natur und die Trauer über den Verlust in Einklang bringt.

Der Kontrast zwischen der Traumwelt der Frau und der Realität, in der sie sich im Krankenbett befindet, verstärkt die emotionale Wirkung des Gedichts. Die Sehnsucht nach dem alpinen Leben, das die Frau mit Gesundheit und Glück verbindet, steht im Gegensatz zur kalten Realität der Krankheit und des nahenden Todes. Der Arzt, der Ehemann, ist Zeuge dieses Leidens und kann nur Trost spenden und auf die Wünsche seiner Frau eingehen. Am Ende des Gedichts bittet die Frau ihren Mann, sie zurück auf die „lieben Höhn“ zu bringen, was ihren tiefen Wunsch nach Heilung und der Rückkehr zu einem früheren, gesünderen Zustand widerspiegelt. Das wiederholte „Das Glöcklein! Wieder! Hörst du’s?“ deutet auf ihre Faszination und Angst vor dem Tod hin, der durch das Glöcklein symbolisiert wird.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.