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Das Gericht

Von

Das Fallbeil fiel; auf dem Schaffot
Bekam er seinen Lohn;
Den roten Ring um seinen Hals
Stand er vor Gottes Thron.
Die weißen Engel schlugen all′
Die Hände vor′s Gesicht,
Und eine tiefe Stimme sprach:
„Es sei ihm das Gericht!“

Es sprach der Geist mit hartem Blick:
„So fahr′ zur Hölle hin;
Du hast vergossen Bruderblut,
Die Nacht sei dein Gewinn!“
Die schwarzen Engel, augenlos,
Mit Mienen tot und stumm,
Die stellten um den Schächer sich
Ganz eng und dicht herum.

Es sprach der Sohn mit weichem Blick:
„Laßt ihn zum Lichte ein;
Er hat mit Tod die Tat gebüßt
Und soll willkommen sein!“
Die weißen Engel nahmen all′
Die Hände vom Gesicht;
Die tiefe Stimme aber sprach:
„Fahrt fort in dem Gericht!“

Es sprach der Geist, es sprach der Sohn,
Die Wage fiel und stieg;
Sie stieg und fiel, bis daß der Sohn
Beklommen stand und schwieg,
Die Stimme schwoll, die Stimme quoll,
Sie fiel wie Blei hinab:
„Ihr schwarzen Engel, tretet her,
Führt ihn zum ewigen Grab!“

Der Mörder sah die Stimme an
Und sprach: „Das nennst du Recht?
Was schufest du zum Herren mich,
Und machtest mich zum Knecht?“
Er riß das flammendheiße Schwert
Dem Cherub aus der Hand
Und schlug der schwarzen Engel Schar
Bis an der Höllen Rand,

Und schrie der stummen Stimme zu:
„Du trägst allein die Schuld;
Du gabst mir zu viel Leidenschaft
Und nicht genug Geduld;
Gabst mir den Nacken steif und stolz
Und kochendheißes Blut;
Dich trifft, was ich verbrochen hab′
In glühendroter Wut!

„Kommt her, ihr Engel ohne Blick,
Ihr Engel, schwarz wie Nacht;
Hier steht ein Mann mit einer Wehr,
Der eurer aller lacht!
Komm Satan her; mit Flammenschrift
Bemal′ ich dein Gesicht;
Sind auch Milliarden hinter dir,
Ich folg′ dir dennoch nicht!“

Die tiefe Stimme stieg empor,
Sie wurde leicht und hell,
Und wurde rosig, wurde warm.
Und sprach: „Komm her, Gesell!“
Da fiel der Mörder auf die Knie
Und sprach: „O Herr, hab′ Dank!“
Und aus der weißen Engel Schar
Erscholl ein Lobgesang.

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Gedicht: Das Gericht von Hermann Löns

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Das Gericht“ von Hermann Löns ist eine tiefgründige Auseinandersetzung mit Themen wie Schuld, Vergebung und göttlicher Gerechtigkeit. Es entfaltet sich in sieben Strophen, die eine dramatische Szene am „Gericht Gottes“ schildern, in der ein Mörder über sein Schicksal verhandelt.

Zunächst wird der Mörder vom Geist verurteilt, was seine Verdammnis zur Hölle bedeuten würde. Die „schwarzen Engel“ stehen bereit, ihn in die Finsternis zu führen. Doch dann ergreift der Sohn, also Jesus Christus, das Wort und plädiert für Gnade, da der Mörder seine Tat mit dem Tod gebüßt habe. Die Waage der Gerechtigkeit schwankt, bis das Urteil des Geistes scheinbar unerbittlich bestätigt wird: Verdammnis. Dies führt zu einer radikalen Wendung in der Geschichte.

Der Mörder, nun von Verzweiflung und Wut getrieben, wendet sich gegen die göttliche Autorität. Er konfrontiert die „stumme Stimme“ und beschuldigt sie, ihn mit Leidenschaft und mangelnder Geduld ausgestattet und so zum Mörder gemacht zu haben. Er greift die schwarzen Engel an und fordert sogar Satan heraus, was seinen trotzigen Widerstand und seinen Kampf um seine eigene Würde zeigt.

Die entscheidende Wendung des Gedichts findet statt, als die „tiefe Stimme“ sich wandelt und in Freundlichkeit und Wärme aufgeht. Sie lädt den Mörder ein, „komm her, Gesell!“. Diese überraschende Wandlung führt zur Vergebung und Erlösung des Mörders, der sich in Dankbarkeit vor dem Herrn niederwirft. Das Gedicht endet mit einem Lobgesang der „weißen Engel“, der die Versöhnung und die Überwindung von Schuld und Verdammnis feiert.

Das Gedicht verdeutlicht die christliche Vorstellung von der Gnade und der Möglichkeit der Erlösung, selbst für diejenigen, die schwere Verbrechen begangen haben. Es stellt die Frage nach der Natur der göttlichen Gerechtigkeit und zeigt, dass Vergebung und Barmherzigkeit letztlich stärker sind als Rache und Verdammnis. Der Mörder durchlebt einen inneren Wandel vom Verzweifelten und Empörten zum dankbaren Gläubigen, was die transformative Kraft der Gnade unterstreicht.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.