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Crucifixus

Von

Am Kreuz hing sein gequält Gebeine,
Mit Blut besudelt und geschmäht;
Dann hat die stets jungfräulich reine
Natur das Schreckensbild verweht.

Doch die sich seine Jünger nannten,
Die formten es in Erz und Stein,
Und stellten′s in des Tempels Düster
Und in die lichte Flur hinein.

So, jedem reinen Aug ein Schauder,
Ragt es herein in unsre Zeit;
Verewigend den alten Frevel,
Ein Bild der Unversöhnlichkeit.

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Gedicht: Crucifixus von Theodor Storm

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Crucifixus“ von Theodor Storm thematisiert die Erinnerung und das Vermächtnis des Kreuzestodes Jesu, wobei es die ursprüngliche Vergänglichkeit dieses Ereignisses mit der späteren Verewigung durch die Menschen kontrastiert. Storms Werk präsentiert eine doppelte Perspektive: Zunächst die natürliche Vergänglichkeit des Kreuzes, symbolisiert durch die „Natur“, die das „Schreckensbild“ auslöscht, und dann die künstliche, von Menschenhand geschaffene Verewigung des Leidens.

Im ersten Abschnitt, der aus den ersten vier Versen besteht, wird der Kreuzestod Jesu als ein schreckliches, aber letztlich vergängliches Ereignis dargestellt. Das Leid, die Erniedrigung und das Blutvergießen werden in detaillierten Bildern beschrieben. Die „Natur“, personifiziert und als „jungfräulich rein“ bezeichnet, löscht jedoch dieses Bild wieder aus, was auf die Vergänglichkeit des Todes und die natürliche Abkehr vom Grausamen hindeutet. Dieser Teil des Gedichts impliziert eine natürliche Vergebung und das Vergessen des Leids, als wäre es nur eine vorübergehende Erscheinung im Kreislauf des Lebens und der Natur.

Der zweite Abschnitt, die Verse 5-8, kontrastiert mit der ersten Strophe. Hier werden die Jünger Jesu als diejenigen dargestellt, die das Bild des Kreuzes verewigen. Durch „Erz und Stein“ wird das Ereignis in materielle Objekte, in Tempel und offene Plätze, in die Kunst und Architektur übertragen. Dieser Vorgang führt zu einer neuen Form der Erinnerung, die das Leid und die Ungerechtigkeit der Kreuzigung fortwährend in die Welt trägt. Die Verewigung wird hier als etwas angesehen, das dem ursprünglichen, vergänglichen Schmerz eine neue Dimension verleiht und ihn dauerhaft in die Welt der Menschen einprägt.

Die letzte Strophe, Verse 9-12, fasst die Implikationen zusammen. Das Kreuz, jetzt ein „Bild der Unversöhnlichkeit“, wird als etwas betrachtet, das bis in die heutige Zeit fortwirkt und „jedem reinen Aug ein Schauder“ bereitet. Storm deutet an, dass die Verewigung des Leidens, der Tod am Kreuz, zu einem Symbol der fortgesetzten Ungerechtigkeit und Unversöhnlichkeit geworden ist. Das Gedicht suggeriert somit eine kritische Auseinandersetzung mit der Art und Weise, wie historische Ereignisse durch Erinnerung und Kunst geformt und interpretiert werden, und stellt die Frage nach der Notwendigkeit und den Folgen dieser Verewigung.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.