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Belloisens Lebenslauf

Von

Ich ward geboren ohne feierliche Bitte
Des Kirchspiels, ohne Priesterflehn
Hab ich in strohbedeckter Hütte
Das erste Tageslicht gesehn,
Wuchs unter Lämmerchen und Tauben
Und Ziegen bis ins fünfte Jahr,
Und lernt′ an einen Schöpfer glauben,
Weil′s Morgenroth so lieblich war,
So grün der Wald, so bunt die Wiesen,
So klar und silberschön der Bach.
Die Lerche sang für Belloisen,
Und Belloise sang ihr nach.
Die Nachtigall in Elsensträuchen
Erhub ihr süßes Lied, und ich
Wünscht′ ihr im Tone schon zu gleichen.
Hier fand ein alter Vetter mich
Und sagte: du sollst mit mir gehen.
Ich ging und lernte bald bei ihn
Die Bücher lesen und verstehen,
Die unsern Sinn zum Himmel ziehn.
Vier Sommer und vier Winter flogen
Zu sehr beflügelt uns vorbei;
Des Vetters Arm ward ich entzogen
Zu einer Bruderwiege neu.
Als ich den Bruder groß getragen,
Trieb ich drei Rinder auf die Flur,
Und pries in meinen Hirtentagen
Vergnügt die Schönheit der Natur,
Ward früh ins Ehejoch gespannet,
Trugs zweimal nach einander schwer,
Und hätte mich wol nicht ermannet,
Wenn′s nicht den Musen eigen wär,
Im Unglück und in bittern Stunden
Dem beizustehn, der ihre Huld
Vor der Geburt schon hat empfunden.
Sie gaben mir Muth und Geduld,
Und lehreten mich Lieder dichten,
Mit kleinen Kindern auf dem Schooß.
Bei Weib- und Magd- und Mutterpflichten,
Bei manchem Kummer, schwer und groß,
Sang ich den König und die Schlachten,
Die Ihm und seiner Heldenschaar
Unsterblichgrüne Kränze brachten,
Und hatte noch manch saures Jahr,
Eh frei von andrer Pflichten Drang
Mir Tage wurden zu Gesang!

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Belloisens Lebenslauf von Anna Louisa Karsch

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Belloisens Lebenslauf“ von Anna Louisa Karsch ist eine autobiografisch geprägte Darstellung eines Frauenlebens im 18. Jahrhundert, wobei die Dichterin ihre eigene Lebensgeschichte in den Mittelpunkt stellt. Es zeichnet einen Weg von einfachen, ländlichen Ursprüngen zu Bildung, familiären Verpflichtungen, dem Verlust und schließlich zur Entdeckung der eigenen Stimme als Dichterin nach.

Der erste Teil des Gedichts beschreibt die Kindheit und Jugend Belloisens in einer idyllischen, naturnahen Umgebung. Die Beschreibungen der Natur, wie das Morgenrot, der grüne Wald, die bunten Wiesen und der klare Bach, erzeugen ein Gefühl von Harmonie und Unschuld. Belloise wächst in enger Verbindung zur Natur auf, lernt schon früh zu singen und findet ihren ersten Mentor in einem alten Vetter, der ihr das Lesen und Verstehen von Büchern lehrt. Dies markiert den Beginn ihres Weges zur Bildung und zur intellektuellen Auseinandersetzung.

Im weiteren Verlauf des Gedichts werden die familiären und sozialen Verpflichtungen Belloisens thematisiert. Sie kümmert sich um ihren Bruder, treibt Rinder auf die Flur und heiratet jung. Die Beschreibung der Ehejahre deutet auf schwere Zeiten und Kummer hin, der durch die doppelte Last der Mutterschaft verstärkt wird. Hier zeigt sich das typische Rollenbild der Frau in dieser Zeit, die mit vielen Pflichten und wenig Freiheit konfrontiert ist. Doch trotz dieser Widrigkeiten findet Belloise Trost und Kraft in den Musen, die sie in ihren schweren Stunden unterstützen.

Der Wendepunkt im Gedicht ist die Entdeckung der eigenen Berufung als Dichterin. Die Musen schenken Belloise Mut und Geduld und lehren sie, Lieder zu dichten. Dies ermöglicht es ihr, ihre Gefühle, Erfahrungen und Gedanken in Worte zu fassen. Die Erwähnung der Lieder über den König und die Schlachten deutet auf eine patriotische und historisch interessierte Auseinandersetzung hin. Trotz aller Schwierigkeiten findet Belloise schließlich die Freiheit, sich dem Gesang und der Dichtung ganz zu widmen, wodurch sie ihr Leben umgestaltet und ihren eigenen Weg geht.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.