Ballade vom kranken Kind
Das Kind mit fiebernden Wangen lag,
Rotgolden versank im Laub der Tag.
Das Fenster hing voller wildem Wein,
Da sah ein fremder Jüngling herein.
»Laß, Mutter, den schönen Knaben ein,
Er beut mir die Schale mit leuchtendem Wein,
Seine Lippen sind wie Blumen rot,
Aus seinen Augen ein Feuer lobt.«
Der nächste Tag verglomm im Teich,
Da stand am Fenster der Jüngling, bleich,
Mit Lippen wie giftige Blumen rot
Und einem Lächeln, das lockt und droht.
»Schick, Mutter, den fremden Knaben fort,
Mich zehrt die Glut und mein Leib verdorrt,
Mich ängstigt sein Lächeln, er hält mir her
Die Schale mit Wein, der ist heiß und schwer!
Ach Mutter, was bist du nicht erwacht!
Er kam geschlichen ans Bett bei Nacht:
Und, weh, seinen Wein ich getrunken hab
Und morgen könnt ihr mir graben das Grab!«
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Ballade vom kranken Kind“ von Hugo von Hofmannsthal erzählt in einer Balladenform von der Verführung und dem Tod eines Kindes durch einen geheimnisvollen Jüngling. Das Gedicht ist durchzogen von einer düsteren Atmosphäre, die durch die Beschreibung des kranken Kindes, die herbstliche Umgebung und die mysteriöse Figur des Jünglings erzeugt wird. Die Ballade nutzt klare Bilder und eine einfache Sprache, um eine beklemmende Geschichte zu erzählen, die von Krankheit, Verführung und dem unausweichlichen Tod handelt. Der Wechsel von der anfänglichen Verlockung zur späteren Erkenntnis des Unheils, das der Jüngling bringt, ist ein zentrales Element der Dramatik.
Die Figur des Jünglings ist von Anfang an von einer bedrohlichen Aura umgeben. Seine Erscheinung, die anfangs mit einem „leuchtenden Wein“ und „roten Lippen“ geschönt wird, wird im Verlauf des Gedichts immer düsterer und beängstigender. Die Metamorphose des Jünglings von einem verlockenden Anblick zu einer Gestalt, die „lockt und droht“, verdeutlicht die Verführungskraft und die Gefährlichkeit seiner Natur. Seine „giftigen“ Lippen und das „heiße und schwere“ Getränk symbolisieren die destruktive Wirkung, die er auf das Kind ausübt. Die Verwendung von Farbe, besonders Rot, verstärkt die bedrohliche Atmosphäre und assoziiert den Jüngling mit Krankheit und Tod.
Das kranke Kind dient als zentrale Figur des Gedichts und als Opfer der Verführung. Seine fiebernden Wangen und seine zunehmende Verzweiflung verdeutlichen seinen körperlichen und seelischen Zustand. Die wiederholten Bitten an die Mutter, den Jüngling entweder hereinzulassen oder wegzuschicken, zeigen die innere Zerrissenheit und die Hilflosigkeit des Kindes. Die Mutter, die als Abwesende dargestellt wird, scheint unfähig oder nicht in der Lage zu sein, ihr Kind zu schützen, was die Tragik der Situation noch verstärkt. Die finale Erkenntnis des Kindes, dass es den Wein getrunken hat und dem Tod geweiht ist, markiert den Höhepunkt der Tragödie.
Die Ballade nutzt eine Reihe von literarischen Mitteln, um die Dichte und den emotionalen Gehalt zu erhöhen. Die Verwendung von Reim, insbesondere des Kreuzreims, gibt dem Gedicht eine musikalische Qualität, die zur Wirkung der Erzählung beiträgt. Die klare Bildsprache, wie beispielsweise das Bild des „wilden Weins“ am Fenster oder die Beschreibung des Jünglings, erzeugt lebendige Vorstellungen. Die sich wiederholenden Motive, wie die roten Lippen und der Wein, schaffen eine starke Symbolik, die die Bedeutung des Gedichts vertieft. Hofmannsthal versteht es meisterhaft, durch die Kombination von Erzählung, Symbolik und Atmosphäre eine eindringliche Geschichte von Verführung, Krankheit und Tod zu erzählen.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.