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Baldur-Christus

Von

Und wieder ward der zeugende Tropfen Bluts aus Baldurs Wundenmalen
Zu roter Blüte erlöst in der Seele eines Menschen.
Das war, als der südliche Mittag mit glühenden Lippen
Verdurstend an den Steppen sog von Palästina.
Heiß gärte ihr Blut, und von der trocknen Straße stieg
Ein Feueratem auf
Und wirbelte in braunen Flocken
Um sonnverbrannte, staubstarrende Gesichter,
Als sie ihn zum ersten Male sahen.
Der Sommerwind riß gierig Jubelrufe
Von ihrem Mund und schleifte sie die Gassen lang:
»Hosianna! Hosianna!«
Palmen schwankten und bunte Tücher,
Und ein Leuchten floß
Von ihm in alle Seelen
Und jauchzte durch die Welt . . .

Und es sank der Mittag hin, und das Lied verschwamm
In blauem Dämmern, das von den Bergen niederrollte.
Abendgluten rankten sich um Marmorsäulen,
Bluteten auf den weißgebauschten Mantel, zuckten
Um wutverzerrte, bleiche Züge,
Um geballte Fäuste,
Die sich empor warfen zur Terrasse, wo
Er träumend über ihre Häupter weg
Den Tag ins blaue Meer verklingen sah –
»Kreuzige ihn! Kreuzige ihn!«
Dumpfes Hämmern durch das schwüle Zwielicht.
Glühend starrt die Gier.
Die rostigen Nägel beißen sieh ins Fleisch.
Die Sehnen springen.
Dampfend quillt das Blut.
Ein Wimmern stirbt
Im trunknen Reigen, der von Blut und Gier berauscht
Das Kreuz umrast:
»Hilf dir, König der Juden!«

Und der Sturm stöhnt auf.
Schreiend verstiebt der Schwarm.
Falbe Blitze stechen nieder,
Rasen durch die Straßen der Stadt,
Die wie von schwarzer Asche verschüttet starrt,
Fern verdröhnend . . .
Dann weicher Regen . . .
Atmende Stille . . .
Die Palmen schauern sich
Den Rieseltau von feuchten Blättern.
Ein Windstoß reißt die Wolken auseinander . . .
Aus grauen Nebeln weiß
Der Mond.
Ein bleiches Leuchten rieselt den schwarzen Stamm hinab,
Der jäh sich auf reckt in die Nacht auf Golgatha.
Zittert auf geschlossnen Lidern
Und fahlen Wangen, über die
Vom Dornkranz, der mit Raubtierpranken
Sich tief ins Fleisch gekrallt,
Ein dünnes Rot hinsickert . . .
Dann wieder Nacht.
Und wieder stöhnt der Sturm . . .
Schwer sinkt ein schlaffes Haupt zur Brust herab.

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Gedicht: Baldur-Christus von Ernst Stadler

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Baldur-Christus“ von Ernst Stadler ist eine moderne Interpretation der Kreuzigung Jesu, verwoben mit nordischen mythologischen Elementen. Die zentrale Metapher verbindet das Leiden und den Tod des germanischen Gottes Baldur mit dem christlichen Christus. Dies deutet auf eine universelle Thematik des Opfertodes und der Erlösung hin, die in verschiedenen Kulturen verankert ist.

Das Gedicht beginnt mit der Erwähnung des Blutes Baldurs, das als „roter Blüte“ in der Seele eines Menschen aufersteht, was die zyklische Natur von Tod und Wiedergeburt symbolisiert. Die Szene wird in das heiße, sonnenverbrannte Palästina verlegt, wo eine Menge von Menschen Jesus zum ersten Mal sieht. Die jubelnden Rufe der Menge und die Beschreibung der Palmen und bunten Tücher erzeugen ein Bild von Euphorie und Hoffnung, was dem darauf folgenden Absturz in Gewalt und Tragödie einen noch größeren Kontrast verleiht.

Die zweite Strophe beschreibt den Übergang vom Jubel zum Verrat und zur Gewalt. Die Abenddämmerung senkt sich, und das Lied der Menge verschwimmt in einem blauen Dämmer. Die Atmosphäre wird zunehmend düster und bedrohlich, als sich die Menge gegen Jesus wendet und ihn zum Kreuzigen fordert. Die detaillierten Beschreibungen der physischen Gewalt, wie das Einschlagen der Nägel und das fließende Blut, sind drastisch und erzeugen ein starkes Gefühl von Grausamkeit und Leid.

Die dritte Strophe widmet sich der Reaktion der Natur auf das Geschehen. Ein Sturm bricht los, Blitze zucken, und die Stadt wird von einer schwarzen Asche verschüttet, bevor sanfter Regen die Szene reinigt. Der Mond erscheint, und ein bleiches Licht erhellt den schwarzen Stamm des Kreuzes auf Golgatha. Das Gedicht endet mit einem Bild der Ruhe und des Friedens, trotz des schlaffen Hauptes, das zur Brust herabsinkt. Dies deutet auf die Hoffnung auf Erlösung und das Ende des Leidens hin, das durch den Opfertod erreicht wird.

Stadlers Gedicht ist somit eine kraftvolle, bildreiche Darstellung des christlichen Leidens und der Erlösungsgeschichte, angereichert mit mythologischen Elementen. Die Verwendung von starken Bildern, Kontrasten und rhythmischen Strukturen verstärkt die emotionale Wirkung und lädt den Leser ein, über die Themen von Tod, Opfer, Verrat und Erlösung nachzudenken. Das Gedicht verbindet die christliche Botschaft mit universellen menschlichen Erfahrungen und Emotionen.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.