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An der sonngewohnten Straße

Von

An der sonngewohnten Straße, in dem
hohlen halben Baumstamm, der seit lange
Trog ward, eine Oberfläche Wasser
in sich leis erneuernd, still′ ich meinen
Durst: des Wassers Heiterkeit und Herkunft
in mich nehmend durch die Handgelenke.
Trinken schiene mir zu viel, zu deutlich;
aber diese wartende Gebärde
holt mir helles Wasser ins Bewußtsein.

Also, kämst du, braucht ich, mich zu stillen,
nur ein leichtes Anruhn meiner Hände,
sei′s an deiner Schulter junge Rundung,
sei es an den Andrang deiner Brüste.

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Gedicht: An der sonngewohnten Straße von Rainer Maria Rilke

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „An der sonngewohnten Straße“ von Rainer Maria Rilke ist eine Meditation über das stille Stillen des Durstes, das in Analogie zum Empfinden nach der Anwesenheit einer geliebten Person gesetzt wird. Es beginnt mit der Beschreibung einer konkreten Szene: Der Sprecher stillt seinen Durst an einer Wasseroberfläche in einem alten Baumstamm. Die Wahl der Worte – „sonngewohnte Straße“, „hohlen halben Baumstamm“ – vermittelt ein Gefühl der Vertrautheit und Natürlichkeit. Die ruhige, fast meditative Geste des Tränkens wird betont, indem das Wasser durch die Handgelenke aufgenommen wird, was eine sanfte, intime Verbindung zur Natur suggeriert.

Der Fokus verschiebt sich dann von der physischen Handlung zur emotionalen Erfahrung. Das „Trinken“ wird als zu „deutlich“ und „viel“ empfunden, während die „wartende Gebärde“ der Wasseraufnahme als der Moment des Bewusstwerdens und der Erleuchtung dient. Hier wird das Bedürfnis nach Erfrischung und das Eintauchen in die Klarheit des Wassers mit dem Wunsch nach einer tieferen, subtileren Erfüllung assoziiert. Das Wasser, Symbol für Leben und Reinigung, durchflutet den Sprecher nicht nur physisch, sondern auch seelisch.

In der zweiten Strophe wird diese Intimität auf eine menschliche Beziehung übertragen. Die stille Erfüllung, die zuvor durch das Wasser vermittelt wurde, wird nun in der Erwartung der geliebten Person gespiegelt. Die Vorstellung, sich an „deiner Schulter junge Rundung“ oder „an den Andrang deiner Brüste“ zu lehnen, wird als eine vergleichbare Form der „Stillung“ dargestellt. Dies unterstreicht die tiefe Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit.

Insgesamt ist das Gedicht ein Ausdruck der Sehnsucht nach einer stillen, subtilen Erfüllung, die sowohl in der Natur als auch in der zwischenmenschlichen Beziehung gefunden werden kann. Rilke nutzt die Metapher des Durstes und des Wassers, um die menschlichen Bedürfnisse nach Erfrischung, Reinigung und dem Eintauchen in eine tiefere, bewusste Ebene des Seins zu erforschen. Die Gedichtsprache ist von einer ruhigen, fast kontemplativen Qualität geprägt, die die intime Natur der Erfahrung unterstreicht.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.