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An Amalie Hassenpflug

Von

Jüngst hab′ ich dich gesehn im Traum,
So lieblich saßest du behütet
In einer Laube grünem Raum,
Von duftendem Jasmin umblütet,
Durch Zweige fiel das goldne Licht,
Aus Vogelkehlen ward gesungen,
Du saßest da, wie ein Gedicht,
Von einem Blumenkranz umschlungen.

Und deine liebe Rechte trug
Das Antlitz mit so edlen Sitten,
Im Sand das aufgeschlagne Buch
Schien von dem Schoße dir geglitten;
Dich lehnend an den frischen Hag
Hauchtest du flüsternd leise Küsse,
Im Auge einer Träne lag,
Wie Tau im Kelche der Narzisse.

Dich anzuschaun war meine Lust,
Zu lauschen deiner Züge Regen,
Und dennoch hätt′ ich gern gewußt,
Was dich so innig mocht′ bewegen?
Da bogst du sacht hinab den Zweig,
Strichst lächelnd an der Spitzenhaube,
An deine Schulter huscht′ ich gleich,
Sah einen Baum in schlichtem Laube,

Und auf dem Baume saß ein Fink,
Der schleppte dürres Moos und Reisig,
»Schau her, schau wieder!« zirpt′ er flink
Und förderte am Nestchen fleißig;
Er sah so keck und fröhlich aus,
Als trüg′ er des Flamingo Kleider,
So sorglich hüpft′ er um sein Haus,
Als fürcht′ er bösen Blick und Neider.

Und wenn ein Reischen er gelegt,
Dann rief er alle Welt zu Zeugen,
Als müsse, was der Garten hegt,
Blum′ und Gesträuch sich vor ihm neigen;
Um deine Lippe flog ein Zug,
Wie ich ihn oft an ihr gesehen,
Und meinen Namen ließ im Flug
Sie über ihre Spalte gehen.

Schon hob ich meine Hand hinauf,
Mit leisem Schlage dich zu strafen,
Allein da wacht′ ich plötzlich auf
Und bin nicht wieder eingeschlafen;
Nur deiner hab′ ich fortgedacht,
Säh′ dich so gern am grünen Hage,
Mich dünkt, so lieb wie in der Nacht,
Sah ich dich noch an keinem Tage.

Im Eise schlummern Blum′ und Zweig,
Dezemberwinde schneidend wehen,
Der Garten steht im Wolkenreich,
Wo tausend schönre Gärten stehen;
So golden ist kein Sonnenschein,
Daß er wie der erträumte blinke;
Doch du, bist du nicht wirklich mein?
Und bin ich nicht dein dummer Finke?

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Gedicht: An Amalie Hassenpflug von Annette von Droste-Hülshoff

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „An Amalie Hassenpflug“ von Annette von Droste-Hülshoff beschreibt eine traumhafte Begegnung mit der namensgebenden Amalie und eine darauffolgende Reflexion über die Realität der Liebe und des Glücks. Das lyrische Ich erlebt Amalie zunächst in einer idyllischen Traumszene, umgeben von Natur, Schönheit und Harmonie. Die detaillierte Beschreibung der Umgebung und Amalies Erscheinung erzeugt ein Gefühl von Vertrautheit und Sehnsucht, das durch das Erwachen des lyrischen Ichs abrupt unterbrochen wird.

Die zentrale Metapher des Gedichts ist der Vergleich des lyrischen Ichs mit einem „dummen Finke“. Diese Vogelmetapher wird im Traum durch die Beobachtung eines fleißigen Finken in einem Nestbau verstärkt, der die Hingabe und das Streben nach Glück symbolisiert. Der Finke im Traum scheint mit Eifer und Stolz sein Zuhause zu bauen und die Welt an seinem Erfolg teilhaben zu lassen. Diese Szene spiegelt möglicherweise die Sehnsucht nach einer ähnlichen Geborgenheit und dem Aufbau einer gemeinsamen Zukunft wider, die das lyrische Ich für sich und Amalie erhofft.

Die Kontrastierung zwischen dem Traum und der Realität bildet das Herzstück des Gedichts. Die winterliche Landschaft und die rauen Winde im letzten Abschnitt stehen im Gegensatz zur sommerlichen Idylle des Traumes. Diese Gegenüberstellung verdeutlicht die Vergänglichkeit des Glücks und die Unmöglichkeit, die Traumwelt in die Realität zu übertragen. Die Frage, ob Amalie tatsächlich „wirklich mein“ ist, drückt die Unsicherheit und das Verlangen nach Beständigkeit in der Liebe aus, die mit der flüchtigen Natur der Träume kollidiert.

Das Gedicht zeigt Droste-Hülshoffs Fähigkeit, komplexe Emotionen in einfachen, bildreichen Worten zu erfassen. Die Verwendung von Naturmetaphern, wie der Blumenschmuck, das goldene Licht und die winterliche Landschaft, verstärkt die emotionale Tiefe und die Sehnsucht nach Harmonie. Durch die Verbindung von Traum und Realität wird eine tiefgründige Auseinandersetzung mit der Natur der Liebe, des Glücks und der menschlichen Suche nach Geborgenheit geschaffen. Die letzte Frage, „Und bin ich nicht dein dummer Finke?“, deutet auf eine Selbstironie hin, die die Komplexität der Gefühle noch unterstreicht.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.