Logo der Website, Schriftzug "Poesie Oase" mit Palmen umrandet.
, , , , , , , , , , , , , , , ,

Am zweiten Sonntage im Advent

Von

Evang.: Von Zeichen an der Sonne

Wo bleibst du, Wolke, die den Menschensohn
Soll tragen?
Seh′ ich das Morgenrot im Osten schon
Nicht leise ragen?
Die Dunkel steigen, Zeit rollt matt und gleich;
Ich seh′ es flimmern, aber bleich, ach, bleich!

Mein eignes Sinnen ist es, was da quillt
Entzündet,
Wie aus dem Teiche grün und schlammerfüllt
Sich wohl entbindet
Ein Flämmchen und von Schilfgestöhn umwankt
Unsicher in dem grauen Dunste schwankt.

So muß die allerkühnste Phantasie
Ermatten;
So in der Mondesscheibe sah ich nie
Des Berges Schatten,
Gewiß, ob ein Koloß die Formen zog,
Ob eine Träne mich im Auge trog.

So ragt und wälzt sich in der Zukunft Reich –
Ein Schemen!
Mein Sinnen sonder Kraft! – Gedanke bleich.
Wer will mir nehmen
Das Hoffen, was ich in des Herzens Schrein
Gehegt als meiner Armut Edelstein?

Gib dich gefangen, törichter Verstand!
Steig nieder
Und zünde an des Glaubens reinem Brand
Dein Döchtlein wieder,
Die arme Lampe, deren matter Hauch
Verdumpft, erstickt in eignen Qualmes Rauch.

Du seltsam rätselhaft Geschöpf aus Ton,
Mit Kräften,
Die leben, wühlen, zischen wie zum Hohn
In allen Säften,
O bade deinen wüsten Fiebertraum
Im einz′gen Quell, der ohne Schlamm und Schaum!

Wehr ab, stoß fort, was gleich dem frechen Feind
Dir sendet
Die Macht, so wetterleuchtet und verneint,
Und starr gewendet
Wie zum Polarstern halt das Eine fest,
Sein Wort, sein heilig Wort, und – Schach dem Rest!

Dann wirst du auf der Wolke deinen Herrn
Erkennen,
Dann sind Jahrtausende nicht kalt und fern,
Und zitternd nennen
Darfst du der Worte Wort, des Lebens Mark,
Wenn dem Geheimnis deine Seele stark.

Und heute schon, es steht in Gottes Hand,
Erschauen
Magst du den Heiland und der Seele Brand
Gleich dem Vertrauen.
Zerfallen mögen Erd′ und Himmelshöhn,
Doch seine Worte werden nicht vergehn.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Am zweiten Sonntage im Advent von Annette von Droste-Hülshoff

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Am zweiten Sonntage im Advent“ von Annette von Droste-Hülshoff ist eine tiefgründige Reflexion über Glauben, Hoffnung und die Auseinandersetzung mit Zweifel und innerer Zerrissenheit. Es spiegelt die Zerrissenheit der Dichterin wider, die zwischen dem Streben nach Erkenntnis durch den Verstand und der Sehnsucht nach dem Halt des Glaubens schwankt. Der Titel deutet auf eine christliche Thematik hin, da er sich auf den Advent bezieht, die Vorbereitungszeit auf die Geburt Christi. Die Verwendung des Evangeliumstextes „Von Zeichen an der Sonne“ als Überthema des Gedichts unterstreicht diesen religiösen Bezug.

Das Gedicht beginnt mit einer klagenden Frage nach der Ankunft des „Menschensohns“ und einer Beschreibung des „bleichen“ Morgenrots, was eine innere Unruhe und ein Gefühl des Wartens andeutet. Die Dichterin beschreibt das eigene „Sinnen“, das wie ein schwaches Flämmchen aus dem Schlamm aufsteigt, was die Zerbrechlichkeit und Unzulänglichkeit des menschlichen Denkens symbolisiert. Der erste Abschnitt des Gedichts ist geprägt von einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit und der Erkenntnis der Begrenzung der eigenen Fähigkeiten. Droste-Hülshoff scheint an der eigenen Fähigkeit zu zweifeln, die Wahrheit zu erfassen, und sieht sich mit der Unbeständigkeit und Unsicherheit des Lebens konfrontiert.

In den folgenden Strophen vollzieht sich eine Wende. Die Dichterin fordert ihren Verstand auf, sich dem Glauben zu unterwerfen und in ihm Halt zu finden. Sie beschreibt den Glauben als einen „reinen Brand“, der das „Döchtlein“, die schwache Lampe des Verstandes, wieder entzünden soll. Der Glaube wird hier als eine Quelle der Reinigung und des Trostes dargestellt, die die Seelennot lindern kann. Die Aufforderung, sich auf das „eine“ Wort, das heilige Wort Gottes, zu konzentrieren, zeigt die Sehnsucht nach einer festen Grundlage und dem Wunsch, dem Zweifel zu entkommen.

Das Gedicht endet mit einer Verheißung. Die Dichterin verspricht, dass durch den Glauben die Möglichkeit besteht, den Heiland zu „erschauen“ und in ihm Trost zu finden. Sie betont die Ewigkeit der Worte Gottes, die selbst dann Bestand haben, wenn „Erd′ und Himmelshöhn“ vergehen. Das Gedicht kulminiert in einem Gefühl der Hoffnung und der Gewissheit, dass der Glaube der Schlüssel zur Erkenntnis und zur Überwindung der menschlichen Zweifel ist. Die letzte Strophe ist ein Ausdruck des Vertrauens in Gottes Verheißungen und der Sehnsucht nach ewiger Erlösung.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.